Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

Was bringt eine Mutter dazu, ihr Kind zu töten? Ist sie selbstsüchtig? Ist sie krank? Oder ist sie einfach unglaublich verzweifelt? Wenn ja, weshalb? Und wer hat letztlich schuld?

«Saint Omer» – unser Film des Monats März – wirft genau diese Fragen auf, spürt ihnen nach und findet einige, wenn auch längst nicht alle Antworten. Das Spielfilmdebüt der Dokumentarfilmerin Alice Diop ist ein fesselnder Gerichtsfilm, der die Komplexität des Lebens erfasst, indem er ein differenziertes Bild der Täterin sowie der Umstände zeichnet. Dabei wird der Medea-Mythos im Kontext von weiblicher Selbstbestimmung, Mutterschaft und Rassismus aus einer neuen Perspektive beleuchtet. Ein faszinierender Film, der sein Publikum herausfordert, über die eigenen Unzulänglichkeiten, Vorurteile und die Widersprüche des Lebens nachzudenken.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen filmisch unbequemen aber ansonsten sonnigen März,

Sarah Stutte und Natalie Fritz



Film des Monats März

März 2023

Saint Omer


Eine Senegalesin ist in Frankreich des Kindsmordes angeklagt. Eine ebenfalls senegalesische Romanautorin verfolgt den Gerichtsprozess und versucht zu verstehen, was in der Kindsmutter vorging und was die Tat in ihr selbst auslöst. Alice Diops Spielfilmdebüt ist eine komplexe und aussergewöhnliche Reflexion über die Stellung der Frau, über Mutterschaft und Rassismus.

Rama (die Genfer Schauspielerin Kayije Kagame) lebt als erfolgreiche Buchautorin in Paris. Sie reist in die Stadt Saint Omer bei Calais, um über einen Gerichtsprozess zu schreiben, der schon im Vorfeld hohe Wellen geschlagen hat. In Saint Omer wird Laurence Coly (grossartig: Guslagie Malanda) angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben. Sie liess das Baby allein an einem Strand zurück, worauf es von der Flut ertränkt wurde.

Wie Rama ist die Angeklagte senegalesischer Herkunft, gebildet und redegewandt und noch eine Gemeinsamkeit verbindet sie: Die Entfremdung zur eigenen Mutter. Beeindruckt von Colys unerschütterlicher Verteidigung, die auf ihren Erfahrungen mit emotionaler Vernachlässigung fusst, beginnt Rama während des Prozesses über ihre eigene Vergangenheit und das Muttersein nachzudenken.

Die preisgekrönte Dokumentarfilmerin Alice Diop liefert mit ihrem ersten Spielfilm ein geheimnisvolles, tragisches und zutiefst verstörendes Gerichtsdrama ab. Dieses beruht auf dem wahren Fall der Senegalesin Fabienne Kabou, deren Prozess Diop 2015 selbst besuchte.

Nicht nur den Medea-Mythos nimmt der Film auf, auch die Herkunft und Stellung der Frau sowie Rassismus sind starke Motive, die immer wieder subtil in die Handlung eingeflochten werden. Die Gelassenheit dieses ruhigen Films, seine emotionale Zurückhaltung und moralische Ernsthaftigkeit – und die angedeutete Bekenntnisdimension, die Diop selbst betrifft – machen «Saint Omer» zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis.

Sarah Stutte, Filmjournalistin

«Saint Omer», FR 2022, Regie: Alice Diop, Besetzung: Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Aurélia Petit, Verleih: Cineworx, http://www.cineworx.ch

Kinostart: 2. März 2023

https://www.medientipp.ch/events/saint-omer/