Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

 

Wir hoffen, dass Sie besinnliche und bereichernde Festtage verlebt haben und gut ins neue Jahr gerutscht sind. Unser erster Film des Monats im «Doppel-Zwanzig» ist der Schweizer Dokumentarfilm «Im Spiegel», der Menschen ins Zentrum stellt, die sonst am Rande der Gesellschaft leben und nur so aus dem Augenwinkel wahrgenommen werden. Hier erzählen vier Obdachlose ihre Geschichte, während die Coiffeuse Anna Tschannen ihnen die Haare schneidet. Ein bewegender Einblick in eine andere Lebenswelt – und ein nachhaltiger Aufruf dazu, ab und an die Perspektive zu wechseln … Warum nicht im 2020 damit beginnen?

 

Mit den besten Wünschen fürs neue Jahr

Eva Meienberg und Natalie Fritz

 

Film des Monats

Januar 2020 by kath.ch

Im Spiegel

«Im Spiegel» macht obdachlose Menschen sichtbar, die sonst in der Hektik des Alltags verschwinden. Der neue Film von Matthias Affolter gibt den obdachlosen Protagonistinnen viel Raum. Ihre Erzählungen stehen im Zentrum und sind eine Bereicherung, wenn man Zeit hat, ihnen zuzuhören

Haare wachsen immer, auch wenn man unter einer Brücke schläft. Anna Tschannen schneidet sie obdachlosen Frauen und Männern für fünf Franken. In einem hellen Zimmer mit grossem Spiegel beobachten sie Anna bei ihrer Arbeit. Sie führt sie sorgfältig und bedächtig aus, gerade so, als wollte sie ihren Kundinnen genügend Zeit zum Erzählen geben. Über die Zeit verdichten sich die Berichte der Obdachlosen zu traurigen Biografien von Einsamkeit, Scham, Gewalt, Drogen und Flucht.

Ramon Gigers Kamera begleitet Markus, Aarold, Urs und Lilian auf ihren Streifzügen. Immer sind sie unterwegs, niemals zu Hause. Sorgfältig komponierte Tableaus zeigen in Variationen das gleiche Bild: Menschenströme, die an den wartenden Obdachlosen vorbeiziehen ohne innezuhalten, als sähe man sie nicht, als gäbe es sie nicht.

Unvergessliche Sätze, die Anna Tschannen in ihrem mobilen Coiffeursalon vernommen hatte, schrieb sie in ein Buch. Es sind Erkenntnisse von Menschen in Wartehäuschen, die alle Zeit haben zu beobachten. Diese Erkenntnisse sind wertvoll für hastende Zeitgenossen, die keine Zeit haben, sich diese Gedanken zu machen.

Matthias Affolters Film vermittelt uns Zuschauenden eine Perspektive, die wir normalerweise meiden, auf eine eingängliche Weise. Wir verstehen, dass das Schicksal von Urs, Aarold, Markus oder Liliane auch das unsrige sein könnte. Die Geschichten verdeutlichen, es braucht wenig, um zu straucheln.

Eva Meienberg, Religionswissenschaftlerin und Redaktorin Medientipp

«Im Spiegel», Schweiz 2019, Regie: Matthias Affolter, Besetzung: Anna Tschannen, Urs Saurer, Lilian Senn; Verleih: Royal Film, Internet: https://www.royal-film.ch, Filmwebsite: https://www.im-spiegel.ch

Kinostart: 15. Januar 2020

https://vimeo.com/354637025