Liebe Filmfreundinnen und Filmfreunde

Es ist eine spezielle Zeit, eine Phase des «Dazwischen» ... Zwischen Pandemie und sogenannt neuer Normalität, zwischen erster und zweiter Welle, zwischen staatlich verordnetem Social Distancing und individuellem Bedürfnis nach Nähe. Unser Film des Monats Juli, «Berlin Alexanderplatz», passt insofern bestens in diese Zeit: Burhan Qurbani inszeniert seine Protagonisten als Wandler zwischen den Welten, den Gesellschaftsschichten – als Hochseil-Akrobaten auf Messers Schneide. Der hoffnungsvolle Sprung in eine bessere Zukunft kann sich umgehend in den Fall in den Abgrund verwandeln ... Das epochale, mutige Werk überzeugt mit erzählerischer Dichte, unzähligen Querbezügen und tollen Schauspielern.

Also, trotzen wir den schwierigen Umständen und lassen uns für einige Stunden im Halbdunkel des Kinosaals ablenken – natürlich unter Einhaltung der Vorsichtsmassnahmen.

Herzlich grüssen Eva Meienberg und Natalie Fritz


Film des Monats Juli

Juli 2020

Berlin Alexanderplatz

Francis flüchtet aus Guinea-Bissau und entrinnt bei der Überfahrt nur knapp dem Tod. Dankbar und mit besten Absichten geht er seiner Zukunft in Berlin entgegen, doch sein hartes Schicksal scheint unausweichlich zu sein. Ein epochales Werk mit biblischen Ausmassen

Der junge Francis wird auf der Flucht von Guinea-Bissau allein ans südeuropäische Land gespült. Froh, am Leben zu sein, will er ein besserer Mensch werden. Doch das Schicksal meint es in Berlin, wo es ihn hin verschlägt, nicht gut mit ihm. Er gerät in die Fänge des psychisch labilen und unberechenbaren Reinhold, der Francis nun Franz nennt. Er beschäftigt ihn als Drogendealer und reisst ihn mit sich in den Abgrund.

Nicht nur ist Alfed Döblins sprachgewaltiger Jahrhundertroman von 1929, mit seinen biblischen Verweisen (Franz ist an die Figur Hiob angelehnt) sowie seinen unzähligen mythologischen und literarischen Bezügen ein fast unbezwingbarer Berg. Auch die drastisch-filmische Umsetzung als 14-teilige TV-Serie durch Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1980 galt bis anhin als die Beste. Fassbinders düsteres Millieu der Entrechteten, Verlorenen und Vergessenen konnte man in jedem Bild und jedem gesagten Wort fühlen, einatmen und schmecken.

Mit seiner freien Verfilmung, die das damalige Berlin in die Gegenwart transferiert, hat sich Regisseur Burhan Qurbani nun mit derselben Furchtlosigkeit in den Roman gestürzt, dem er aber in vielen Details auch seinen Respekt zollt. Eine grandiose Darstellung liefert Albrecht Schuch als gebrochener Reinhold. Keine Minute ist in diesem dreistündigen Epos zu viel. Man durchlebt diese Geschichte, als tauche man zum ersten Mal in sie ein und ist am Ende bewegt und berauscht von diesem Gesamtkunstwerk und so viel mutigem deutschen Kino.

Sarah Stutte, Filmjournalistin

«Berlin Alexanderplatz», Deutschland/Niederlande 2020, Regie: Burhan Qurbani, Besetzung: Welket Bungué, Albrecht Schuch, Jella Haase, Verleih: filmcoopi, www.filmcoopi.ch

Kinostart: 9. Juli 2020

https://youtu.be/lpR9-YXR05k

https://www.medientipp.ch/events/berlin-alexanderplatz/