Weg-Wort vom 12. November 2010
Heimat
Vor einigen Jahren wohnten wir in einem Dorf in einem Mehrfamilienhaus,
dessen Bewohner und Bewohnerinnen nicht nur bunt gemischt waren, was das
Alter und die Lebensformen betraf, sondern auch die Herkunft: Da gab es je
eine Familie aus Tunesien, aus Kosovo und aus Thailand. Die drei älteren
verwitweten Frauen, die seit 40 Jahren in dem Haus lebten, waren gebürtige
Schweizerinnen. In der Schule hatten die Kinder Gschpänli aus Vietnam,
Kroatien, Bosnien, Mazedonien und der Dominikanischen Republik.
Wenn ich heute mit dem Velo auf dem Weg zum Bahnhof unterwegs bin, steht er
meistens neben dem Eingang zum Coop, der junge Asylbewerber aus Afrika. Auf
Brusthöhe hält er einige Exemplare des Strassenmagazins Surprise. Sieht er
mich, lächelt er; wir reden ein paar Worte, und manchmal kaufe ich ihm eine
Zeitung ab. Er spricht nicht viel deutsch. Ich weiss nicht, wie er in die
Schweiz gekommen ist, seit wann er hier ist, wo und wie er lebt.
Warum erzähle ich Ihnen das?
Am Sonntag ist der Welttag der Migranten und Flüchtlinge. Das Wort
Flüchtling weist darauf hin, dass die Menschen aus ihrer Heimat geflohen
sind, ihr Zuhause verlassen mussten.
Meine Schwester, die aus freien Stücken auf einen anderen Kontinent
ausgewandert ist, hat auch nach Jahrzehnten noch immer Heimweh.
Wie mag es Menschen zumute sein, die unfreiwillig alles zurücklassen müssen,
und in der Fremde um Aufnahme bitten?
Schon Jesus und seine Eltern waren Migranten, waren auf der Flucht und
suchten Aufnahme im fremden Land. In seiner Rede über die Endzeit sagte
Jesus: Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen.
(Matthäus 25,35b)
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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Weg-Wort vom 11. November 2010
Nächstenliebe hat keine Stunde
Heute ist der 11. November. Für viele unserer nördlichen Nachbarn wird um
11.11 Uhr die Fasnacht ausgerufen, und bei uns fangen manche Guggenmusiken
an, für die Fasnacht zu proben.
Ich denke seit Kindesbeinen an diesem Tag eher an den hl. Martin, jenen
Bischof von Tours, der vor gut 1600 Jahren gelebt hat. Über all die
Jahrhunderte ist er den Menschen bis heute in lebendiger Erinnerung
geblieben, weil er das lebte, was er predigte, nämlich tätige Nächstenliebe.
Die Legende besagt, er habe als junger Soldat in einem strengen Winter am
Stadttor von Amiens einen Bettler angetroffen. Alle Menschen gingen offenbar
achtlos an ihm vorbei. Weil er nichts anderes bei sich hatte, zerteilte
Martin seinen Militärmantel und gab die eine Hälfte dem Frierenden. Das
brachte ihm den Spott einiger Umstehender ein, da er mit dem halben Mantel
nun selber erbärmlich aussah. In der folgenden Nacht erschien Martin im
Traum Christus, bekleidet mit dem halben Militärmantel. Für Martin war das
ein Zeichen Gottes. Er liess sich taufen. Er hatte sich Gottes Sache zu
seiner eigenen gemacht.
Wir werden kaum mehr einen frierenden Bettler im Schnee antreffen. Dafür
spüren viele Menschen eine andere bittere Kälte: die Kälte aus
Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit, Missverständnissen, Streit, Trennung, die
Kälte aus Wortlosigkeit, Einsamkeit. Heute wie damals braucht es den Martin,
der hinschaut, der Not wahrnimmt und seinen Mantel teilt: den Mantel der
Güte und Nähe, den Mantel der Sorge und Anteilnahme, den Mantel tatkräftiger
Hilfe. (Gisela Baltes)
Ich habe einmal eine Wanduhr gesehen, die ohne Zeiger gefertigt war. Somit
kann man weder die Stunden noch die Minuten an ihr ablesen. Stattdessen ist
ein Spruch über dem Zifferblatt angebracht: Nächstenliebe hat keine
Stunde. Wie wahr! Denn jede Stunde und Minute ist die richtige dafür.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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Weg-Wort vom 4. November 2010
Empfangen und loslassen
Empfangen und loslassen wo lässt sich das besser erfahren und einüben als
beim Atmen? In der letzten Yoga-Stunde fühlte sich das für mich so an:
Bewusst einatmen ohne jede Anstrengung. Die eingeatmete Luft einen
Augenblick wahrnehmen ohne sie krampfhaft zu halten. Ausatmen leer
werden, nichts zurückbehalten, den Atem loslassen.
Beim Atmen spüre ich, wie es ist, wenn ich zu viel Sauerstoff aufnehme und
zu wenig ausatme.
Es entsteht eine Unausgewogenheit. Ist diese über längere Zeit zu gross,
kann das zu Schwindel führen bis hin zum Hyperventilieren, weil zu viel
Sauerstoff im Blut ist. Lasse ich aber so viel Atemvolumen los wie ich
aufgenommen habe, entsteht ein Gefühl von Leichtigkeit.
Die Erkenntnis daraus: Wir nehmen, konsumieren
und erwarten oft mehr als uns gut tut. Immer noch mehr wird aber irgendwann
einmal zu viel. Dieses Zuviel blockiert uns dann, wir haben die Hände, aber
auch den Kopf und vor allem das Herz nicht mehr frei für das, was das Leben
für uns bereit hält. Das Bemühen, alles Erworbene zu (be)halten, wird zur
krampfhaften Anstrengung.
Wenn meine geöffneten Handflächen nach oben zeigen, ist Beides möglich,
nämlich empfangen als auch loslassen, entgegennehmen als auch geben.
Die Hände sind dann wie eine Schale.
Wer loslässt, hat zwei Hände frei. Diese Weisheit gilt auch für den Kopf
und das Herz. So wie ein Heissluftballon immer wieder Ballast abwerfen muss,
um Höhe zu gewinnen, so ist es gut, immer etwas mehr zu geben als zu nehmen.
Wir werden dafür einen Zuwachs an Lebensfreude feststellen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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Weg-Wort vom 3. November 2010
Wozu das ABC gut ist
Schon öfters haben mir Menschen in einem Gespräch gesagt: Wissen Sie, ich
bin nicht gerade besonders
gläubig. Aber an etwas muss ich mich ja auch halten können. Mir geht es gar
nicht gut. Da dachte ich ans Beten. Von Anderen höre ich immer wieder, dass
es ihnen hilft. Nur bei mir nützt es nichts. Ich weiss ja nicht mal, wie das
richtig geht mit dem Beten. Ich glaube, ich kann überhaupt nicht beten.
Muss man also erst lernen, richtig zu beten?
Die Erzählungen der Chassidim berichten von Begegnungen zwischen Menschen,
von ihrem Umgang miteinander und von ihren Glaubens-erfahrungen. In einer
ihrer Geschichten habe ich eine einfache Antwort auf die Frage nach dem
richtigen Beten gefunden:
Eines Abends spät merkte ein armer Bauer auf dem Heimweg vom Markt, dass er
sein Gebetbuch nicht bei sich hatte. Da ging mitten im Wald ein Rad seines
Karrens entzwei, und es betrübte ihn, dass dieser Tag vergehen sollte, ohne
dass er seine Gebete verrichtet hatte.
Also betete er: Ich habe etwas sehr Dummes getan, Herr. Ich bin heute früh
ohne mein Gebetbuch von zuhause fortgegangen, und mein Gedächtnis ist so
schlecht, dass ich kein einziges Gebet auswendig sprechen kann. Deshalb
werde ich dies tun: ich werde fünfmal langsam das ganze ABC aufsagen, und
du, der du alle Gebete kennst, kannst die Buchstaben zusammensetzen und
daraus die Gebete machen, an die ich mich nicht erinnern kann.
Und Gott sagte: Von allen Gebeten, die ich heute gehört habe, ist dieses
ohne Zweifel das beste, weil es aus einem einfachen und ehrlichen Herzen
kam.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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