Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
Weg-Wort vom 24. August 2021
Ohne Warum
An der Bescheidenheit scheiden sich die Geister. Für die einen gilt sie als die Tugend, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und
sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Andere wollen sich nicht selbst beschränken und halten es mit dem Sprichwort «Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser lebt sich’s ohne ihr». Wieder andere interpretieren Bescheidenheit als eine Art Angstreaktion
der Menschen, die davor zurückschrecken, sich voll und ganz zu zeigen und auszuleben, was in ihnen steckt. Und manch kluger Zeitgenosse versteht sie als diplomatische Haltung, um Neidreaktionen zu vermeiden.
Wenn wir in die Evangelien schauen, scheinen wir widersprüchliche Hinweise zu erhalten. Einmal sagt Jesus in der Bergpredigt, man solle
sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Und wir lesen an anderer Stelle, dass wir sagen sollen: «Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.»
Möglicherweise kann uns der schlesische Mystiker Johannes Scheffler, eher bekannt als Angelus Silesius, weiterhelfen. In einem seiner
vielen treffenden Sinnsprüche dichtet er:
Die Ros ist ohn Warum, sie blühet,
weil sie blühet. Sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.
Hier entdecke ich etwas Erstaunliches: Es spricht nichts dagegen, vollständig zu erblühen ohne mich in irgendeiner Weise zurücknehmen
zu müssen. Meine Fähigkeiten sind Gottesgaben, die ins Spiel kommen wollen. Dafür muss ich mich nicht selbst grösser und andere kleiner machen. Sind die Absichten rein, dann können wir uns leicht und ohne Neid an den Stärken der anderen mitfreuen. Die Rose
des Mystikers bringt wunderbar auf den Punkt, was sich die göttliche Liebe für uns Menschen wünscht.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Bild von Erika Varga auf Pixabay
© Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich
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