Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom4. Juni 2020
Unangenehm
Gestern ging ein kurzer Schauer nieder, der auf den Fenstern meiner Wohnung
viele kleine Tropfen hinterliess. In jedem dieser winzigen Gebilde spiegelte
sich auf dem Kopf stehend das gegenüberliegende Gebäude. Diese Beobachtung
gefiel mir so, dass ich sie fotografisch festhielt. Dabei kam mir vom
deutschen Schriftsteller, Schauspieler und Komiker Karl Valentin ein
Ausspruch in den Sinn, den ich besonders mag: Ich freue mich, wenn es
regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, dann regnet es auch.
Der Satz führt mir immer wieder vor Augen, wie oft ich meine Stimmung von
äusseren Umständen abhängig mache, zum Beispiel eben vom nassen Wetter, das
mich manchmal betrübt, oder sogar verärgert, wenn ich noch etwas draussen zu
erledigen habe. Mir fällt auf, wie ich in solchen Momenten nur meine eigenen
Unannehmlichkeiten wahrnehme, und nicht das ganze Bild betrachte, etwa wie
die Natur und die Landwirte sich das lebenspendende Nass vom Himmel seit
längerem herbeigesehnt haben.
Es reizt mich, den Spruch von Karl Valentin sinngemäss auszuweiten. Dann
klingt er schon recht herausfordernd: Ich freue mich, wenn mir Unangenehmes
begegnet, denn wenn ich mich nicht freue, verschwindet das Unangenehme auch
nicht. Ist das nun eine Aufforderung, die rosarote Brille anzuziehen? Oder
nach dem Motto Augen zu und durch das Leben zu bewältigen? Das würde, so
glaube ich, auf Dauer nicht funktionieren. Im Gegenteil erscheint mir in
diesem Satz die Aufforderung, mich dem Unangenehmen zuzuwenden statt mich
dagegen zu sträuben. Vielleicht erkenne ich das grössere Bild, das mir einen
Sinn vermittelt. Oder es lässt mich Details entdecken, die mich staunen
lassen, wie die kleinen Regentropfen auf der Fensterscheibe.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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