Weg-Wort vom 21. September 2012
Berührung
Können Sie sich berühren lassen? Körperlich meine ich. Oder denken Sie sofort: Bleib mir
vom Leibe. Mögen Sie sich umarmen lassen?
In den letzten Jahren hat sich damit viel getan. Junge Leute umarmen sich, wo immer sie
sich treffen. Selbst 60jährige Männer tun es, denen das früher fremd war. Die Deuter
unserer Lebenswelten haben dafür eine Erklärung gefunden: Wir leben immer individueller,
immer selbstbestimmter, aber auch immer einsamer. Da müssen wir uns vergewissern, dass wir
nicht allein sind, dass wir dazu gehören. Mir leuchtet die Deutung ein.
In der Geschichte der Psychiatrie wird von dem Mädchen Genie aus den USA erzählt. Sie
wurde am 4. November 1971 verstört aufgefunden. Sie war 13 Jahre alt. Ihr psychopathischer
Vater hatte sie in einen Keller gesperrt, als sie 20 Monate alt war. Sie bekam Nahrung und
Wasser, aber ihr Ohr hat keinen Ton gehört, ihr Augen keinen anderen Menschen gesehen. Als
sie gefunden wurde, wog sie 25 Kilo und war 1,35 m gross. Sie hat sieben Jahre gebraucht,
um aus sich herauszukommen. Ihr erstes Wort war: "Ich vermisse Mama." Auf dem
ersten Bild, das sie malte, zeichnete sie eine grosse Hand. "Mamas Hand." In der
Hand eine kleine Puppe, sie selbst.
Für die langsame Heilung dieses Mädchens, dieser jungen Frau später, war viel Nähe und
Berührung nötig. Berührung ist die Lösung. Das wusste man schon zu Zeiten Jesu. "Sie
baten ihn, dass er ihnen die Hände auflege." Das Auflegen der Hände, eine Geste
wirksam jenseits von Zeit und Raum. Durch Berührung geschieht der Zuspruch der
Geborgenheit.
"Und Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite." Die Berührung, Zuwendung, Intimität
verträgt kein Publikum. Wenn jemand sich selber finden oder zu sich kommen will, oder ganz
beim Anderen sein will, braucht er keine Zuschauer.
Berührung, Rührung - beides hängt zusammen. Wann wurden Sie das letzte Mal berührt? Wann
waren Sie das letzte Mal gerührt?
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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