Weg-Wort vom 26. Januar 2010
Der Sprung in der Schüssel
Er war wütend, deprimiert und verzweifelt zugleich. Für ihn hatte das Leben
keinen Sinn mehr. Sein Knie war nicht mehr zu reparieren. Er konnte seinen
Beruf als Maler, den er über alles liebte, nie mehr ausüben. Er brauchte
Jahre, bis er diese Behinderung annehmen, bis er sich auf neue Möglichkeiten
für sein Leben einlassen konnte. Eines Tages erzählte er mir dann diese
chinesische Weisheitsgeschichte:
Eine alte Frau lebte in einer sehr kargen Gegend. Das Wasser für ihr
Häuschen und den kleinen Garten holte sie täglich aus dem über eine Stunde
entfernten Fluss. Auf ihren Schultern trug sie dabei eine Stange, an deren
Enden je eine Schüssel hing. Die eine war makellos, die andere hatte einen
Sprung, so dass sie, zuhause angekommen, jeweils halb leer war.
Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sagte die
Schüssel zur Frau: Ich schäme mich so wegen meines Sprungs und dass ich nur
die Hälfte der Arbeit leisten kann, wofür ich eigentlich gemacht bin.
Die alte Frau lächelte: Ist dir nicht aufgefallen, dass auf deiner Seite
des Weges, wo du jeweils Wasser verlierst, Blumen blühen? Ich habe da Samen
gesät. Du giesst sie seither jeden Tag. Seit zwei Jahren freuen sich die
Menschen aus der Umgebung mit mir über die unverhoffte Blumenpracht. Wir
pflücken die Schönsten unter ihnen und schmücken unsere Wohnungen damit.
Wir alle haben unsere Macken, Mängel und Unzulänglichkeiten. Wir haben alle
unsere Brüche in unserem Leben, unsere kleineren oder grösseren,
kurzzeitigen oder längerdauernden Sprünge in der Schüssel, die uns zu
schaffen machen, die wir nur zu gerne loshaben würden.
Aber sind es nicht gerade auch sie, die uns zu dem machen, wer wir sind?
Machen nicht gerade sie aus uns den besonderen, eigenwilligen und
einzigartigen Menschen, der wir sind, mit all seinen Ecken und Kanten?
Vielleicht sind es ja gerade sie, die unser Leben interessant und lohnend
machen! Die irgendwie und irgendwo Früchte hervorbringen, von denen wir
keine Ahnung haben! Und das vor allem dann, wenn wir uns selber und die
anderen so annehmen wie wir eben sind.
Welches sind meine Sprünge in der Schüssel? Wie wäre mein Leben ohne sie
verlaufen? Was würde mir und meinen Mitmenschen fehlen ohne sie? Wie haben
sie mein Leben bereichert? Und tun es noch?
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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