Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
Weg-Wort vom 9. Juli 2021
Schönheit
Vor wenigen Tagen ging ich mit einer Freundin spazieren. Als sie mich anschaute bemerkte sie, dass ich mir an diesem Morgen den Bart unregelmässig
rasiert hatte. Sie sagte es mir, und ich dachte: Wie unschön! Und ich schämte mich einen Moment lang dafür, so herumzulaufen. Das Gefühl verflog zum Glück bald wieder. Später kam mir dieser Augenblick nochmal in den Sinn, und ich fragte mich, was denn einen
Menschen schön oder hässlich macht, und warum wir so schnell den Makel und das Unvollkommene an einer anderen Person wahrnehmen und sie deshalb vielleicht sogar geringachten.
Normalerweise finden wir das Ebenmässige schön: glatte Haut, eine gleichmässige weisse Zahnreihe, gepflegtes seidiges Haar, wohlgeformte Körperproportionen
und so weiter. Aber es kann auch zu viel des Guten sein! Kein Gesicht, kein Körper ist vollkommen symmetrisch. Wären sie es, es sähe unnatürlich, langweilig und leer aus. Eine gewisse Unregelmässigkeit gehört zur Lebendigkeit. Mir gefallen Menschen, die um
ihre Eigenheiten, Altersspuren, Narben wissen und sie voll und ganz annehmen – mit Würde, Humor und ohne Überheblichkeit. «Schwarz bin ich, doch schön … Die Sonne hat mich verbrannt.» Sagt die Geliebte am Anfang des Hoheliedes. In meiner Vorstellung verkörpert
sie diese Würde.
Ein Sprichwort sagt: «Schönheit liegt im Auge des Betrachters.» Wer mit Liebe schaut, sieht durch die Unvollkommenheiten hindurch und lässt sich
berühren: ein alterndes Paar etwa, das sich nach über 40 Jahren immer noch zärtlich küsst, ein Enkelkind, das seine Grossmutter anhimmelt, ein junger Mann, der zu seiner Freundin auch nach dem entstellenden Unfall steht. Ich glaube, in den Augen Gottes ist
jeder einzelne Mensch schön, weil er uns mit so viel Liebe anschaut. Ich möchte lernen, mit den Augen Gottes zu sehen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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© Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich
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