Weg-Wort vom 13. August 2013
Vom Kreuz herunter
Er fragte sich schon lange, warum er da herum hing. Die Kapelle war klein
und in diesen heissen Tagen besonders stickig, die Wände dunkel vom Russ der
Kerzen. Und er, er hing da, düster, bedrückend und diente hauptsächlich als
Kinderschreck. Die regelmässigen Besucher sahen ihn gar nicht mehr richtig
an. Die Schmerzen, das Leiden, das Horrorszenario, das er damals durchlebte.
Eigentlich hatte er schon lange genug davon am Kreuz zu hängen. Was war das
für eine traurige Botschaft: Festgenagelt an einem Längs- und Querbalken, wo
er sich doch gerne aufmachte zu den Menschen.
Das war nicht er. Er wollte bei den Menschen sein, mit ihnen leben, lachen,
feiern, aber auch weinen.
Er wusste um die bittersten Stunden im Leben eines Menschen. Sie hatten ihn
aufgehängt - und jetzt hing er immer noch. Er wollte weder festgenagelt
werden, noch sein, noch bleiben. Er musste irgendwie da runter, damit er die
Menschen wieder erreichen konnte.
Es war schon gut, dass die Menschen hierher zu ihm ka-men, aber das war nur
die eine Seite der Medaille. Seine Botschaft konnte sich nur erfüllen, wenn
er selber unter-wegs war. Menschen, die ihm das verunmöglichen wollten,
hatten ihn ans Kreuz genagelt. Und jetzt hing er immer noch daran. Und das
Leiden am Kreuz hatte seine schreckliche Seite verloren, man hatte sich
daran gewöhnt, dass er da hing, sein grauenhaftes Sterben wurde zum Amulett
verniedlicht, zum goldnen Anhänger, der manchen Frauen- und Männerhals
ziert. So gings auch mit dem, was er zu sagen hatte: Es war nett.
Er musste da runter, wieder unter die Menschen. So machte er sich auf, riss
sich los vom Kreuz, an das er festgenagelt war, stieg herunter und
erschreckte alle, die es mitbekamen. Er riss nicht nur seine Hände vom
Balken weg, sondern auch die Menschen aus ihrer gewohnten Frömmigkeit, sie
erschraken und konnten es nicht fassen, was da geschah. Es brachte ihren
Glauben völlig durcheinander. Und er: Er fragte sich, ob er endlich frei,
schon wieder zu einer Bedrohung geworden sei?
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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