Weg-Wort vom 31. Januar 2008
Aus der Rolle fallen
Es gibt in der Bibel eine wilde und wüste Geschichte, über die in den
Kirchen nicht gern und so gut wie nie gepredigt wird. Dabei ist es gerade in
ihrer Wildheit und Wüstheit eine ausgesprochen befreiende Geschichte.
König David war es gelungen, Israel zu einen und Jerusalem zum Zentrum
seines Königtums zu machen. Dem politischen Zentrum fehlte der religiöse
Mittelpunkt, der vor allem die Einheit des Reiches garantieren sollte.
Deshalb holte er das zentrale Kultheiligtum, die Bundeslade, nach Jerusalem.
Über dieses Ereignis berichtet das zweite Buch Samuel:
Da ging David hin und brachte die Lade Gottes voll Freude zur Stadt Davids
hinaus... Und David tanzte mit aller Macht vor dem Herrn her; dabei war
David nur mit einem kurzen Leinenrock bekleidet. Auf diese Weise führten
David und das ganze Haus Israel die Lade unter Jubel und Posaunenschall
hinauf. Als die Lade des Herrn in der Stadt Davids angelangt war, blickte
Michal, Sauls Tochter und Davids Ehefrau, aus dem Fenster. Und als sie David
vor dem Herrn herspringen und tanzen sah, schämte sie sich seiner in ihrem
Herzen.... Sie ging David entgegen und sprach: Wie würdig hat sich heute der
König von Israel aufgeführt. (2 Sam 6,12-16.20).
Es muss wüst ausgesehen haben. Nicht mit langsam abgemessenem Schritte,
sondern mit viel Gesängen sah man den König, spärlich gekleidet, vor dem
Allerheiligsten hertanzen, gefolgt von einer begeisterten Menge, alle
tanzend, jubelnd, feiernd. Für die königliche Frau ein schockierender
Vorgang. Wir begreifen ihre Reaktion: Wie kannst du nur! Wie kannst du dich
nur vor allen Menschen blossstellen!
Der König rechtfertigt sich nicht, er entschuldigt sein Verhalten nicht,
sondern gesteht: Ja, tanzen will ich vor dem Herrn. Gepriesen sei der Herr,
der mich erwählt hat. David hat gespürt: Vor Gott darf ich mein königliches
Amt und all die Rollen, die ich täglich zu spielen habe vergessen. In der
Freude über seine Gegenwart unter den Menschen darf ich aus der Rolle
fallen. Vor ihm muss ich nichts darstellen, wie ich vor andern Menschen
und manchmal sogar vor mir selber - etwas darstellen muss. Da darf ich so
sein, wie ich im tiefsten Grunde bin. Wer das vermag, ist wahrlich ein
freier Mensch.
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