Weg-Wort vom 20. Januar 2011
Der Röhrenblick
Sie geniessen es, auf einer Aussichtsplattform zu sein? Dann geht es Ihnen
wie mir und vielen anderen. Ein solcher Ort hat ja den Namen deshalb, weil
man von ihm einen grandiosen Blick auf die Natur ringsum hat oder auf die
Stadt, die einem zu Füssen liegt. So fand ich neulich die Sicht von der
Terrasse der ETH Zürich über die ganze Stadt überwältigend, obwohl es ein
trüber und grauer Tag war.
An Orten mit fest installierten Fernrohren wird diese Sicht schier
grenzenlos. Die natürliche Grenze, die mein Sehvermögen mir setzt, wird
aufgehoben. Das Teleskop holt das Ferne ganz nah heran. Dicht vor meinen
Augen tut sich mir ein Universum im Kleinen auf. Noch eindrücklicher sind
Beobachtungen des nächtlichen Sternenhimmels. Wer schon einmal die
Gelegenheit hatte, in einem Observatorium zu sein, wird das bestätigen.
Was aber wollte meine einstige Nachbarin sehen, als sie von ihrer Wohnung
aus mit dem Fernglas in unsere Stube schaute? War sie gehbehindert und
konnte nicht mehr nach draussen? Dann hat sie mit dem Blick durchs Fernglas
ihre enge Welt vielleicht etwas erweitern wollen.
Alle diese Aus- und auch Einblicke mögen faszinierend sein. Trotzdem stelle
ich nüchtern fest: Fernrohre rücken nichts wirklich näher. Die Landschaft am
Horizont bleibt unverrückbar an ihrem Ort, ebenso die Berge, die Skyline
einer Grossstadt und auch die kleine Wohnzimmeridylle der Nachbarn.
Das Zoom täuscht gewissermassen die Wahrnehmung der Sicht, indem es die
Grenzen des eigenen Auges aufhebt. Aber es kann nicht ersetzen, was ich
selbst empfinde. Erst recht nicht, was ich aus der Nähe betrachten, und
betasten kann. Unsere Sinneswahrnehmung ist unendlich tief und kostbar.
Technische Errungenschaften mögen unser Leben bereichern. Aber sie sind nur
eine Zugabe. Das Leben erfahren mit allen Sinnen ersetzen sie nicht.
Gehen wir deshalb mit offenen Augen durch den Tag, um uns an den vielen
schönen Dingen der Schöpfung in unserer nächsten Nähe zu freuen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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