Weg-Wort vom 12. Oktober 2006
Weitblick
Die letzten schönen Tage haben viele Menschen eingeladen, eine Bergwanderung
zu machen. Wozu nehmen wir eigentlich die Mühe eines steilen Aufstiegs auf
uns? So ein abseitiger Weg auf die Höhe eines Berges führt anscheinend
nirgendwohin. Oben angekommen, bleibt nichts anderes übrig als kehrtzumachen
und den Rückweg anzutreten. Für jemanden, der ökonomisch denkt, der nur nach
dem Nutzen fragt, ist so ein Weg streng genommen ein Abweg.
Liebhaber und Liebhaberinnen der Berge werden den Kopf schütteln, wenn nach
dem Nutzen des Wanderns gefragt wird. Wer es erfahren hat, weiss, dass es
sinnvoll ist. Das Betrachten der Landschaft, das Schauen, das Ausruhen im
Schauen kann einem Weg auf die Höhe eines Berges allein schon genügend Sinn
geben.
In der Bibel erfahren wir, dass auch Jesus einmal eine Jüngergruppe abseits
auf einen Berg führte. In einer geheimnisvollen Sprache heisst es im
biblischen Text: Während Jesus betete, verwandelte sich das Aussehen seines
Gesichtes und sein Gewand wurde leuchtend weiss (Lk. 9,29). Der Berg ist in
der Bibel immer wieder Symbol für das Offenbarwerden Gottes in Raum und
Zeit. Wie Mose auf einem Berg eine tiefe Erfahrung Gottes machen durfte, so
wird den Anhängern Jesu bei dieser Begebenheit vertiefter die Person Jesu
enthüllt. Ihr Blick wird auf das gute Ende gelenkt, das sein Leben nehmen
wird. Zwar wird er grausam umgebracht werden, aber der Tod wird nicht das
letzte Wort haben, sondern das Leben, und zwar befreites, erlöstes Leben.
Es ist ein wunderbares Schauen, das den Jüngern hier mitten im Alltag
gewährt wird. Ein Ort wird ihnen geschenkt, wo sie besser verstehen lernen,
wo sie den Durchblick gewinnen. Haben wir solche Orte, wo wir uns selber
finden, uns erholen und auch einholen können, wo wir das Ganze unseres
Lebens in den Blick bekommen? Ein solcher Ort kann eine Bergwanderung sein.
Ein solcher Ort möchte auch der Sonntag sein, wo wir - wie nach einem harten
Aufstieg auf einen Berg - die Aussicht auf die weite Landschaft unseres
Lebens geniessen.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche