Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 2. Februar 2018
Schräge Welt
Ich gehöre wohl zu den Baby-Boomern. Knapp 10 Jahre nach dem 2. Weltkrieg
geboren, waren meine Eltern daran, uns ein besseres Leben zu bescheren. Im
Gegensatz zu ihnen hatten wir genug zu essen. Wir hatten ein Dach über dem
Kopf, lebten zu sechst, manchmal auch zu siebt in einem kleinen
Vier-Zimmer-Reihenhaus. Es hat uns eigentlich an nichts gefehlt, ausser
vielleicht an regelmässig neuen Kleidern. Kleider wurden nachgetragen, von
da und dort kamen sie und es galt ihnen Sorge zu tragen. Ellbogen und Kniee
wurden - wenn sie durchgeschabt waren - mit einem Stück Stoff oder Leder
verstärkt. Eine zerrissene Hose war deshalb schon eine kleine Katastrophe,
weil Ersatz selten einfach so vorhanden war. Sie musste zuerst geflickt
werden. Nie wäre es uns in den Sinn gekommen, eine Hose absichtlich mit
Löchern zu versehen.
In den 90-ern träumt der Familienvater im Lied von Udo Jürgens "Ich war noch
niemals in New York" davon, in zerrissenen Jeans durch San Francisco zu
gehen. Das Freiheitsgefühl entsprach dem Zustand von Hose und Jacke. Je
zerschlissener und abgetragener sie waren, desto tiefer war das Gefühl
gelebter Freiheit.
Und heute? Heute kann man sie kaufen - nicht die Freiheit, die Jeans:
kunstvoll zerrissen, dadurch vielleicht auch eine Prise teurer. Es ist jetzt
ein Brand. Freiheit und Protest meint man im Trendshop einkaufen zu können
und nur schon so einen Hauch von Freiheit zu erhaschen, wenn man in
zerrissenen Jeans durch Zürich geht.
Und so kompliziert es klingen mag, liegt Freiheit für die jetzige Generation
wohl nicht mehr im Ausbrechen aus überkommenen Strukturen, sondern eher im
Zusammenhalten einer immer mehr auseinanderbrechenden Gesellschaft.
Im Gefolge des Predigers meine ich, dass wir nicht mehr in den Zeiten des
Steinewerfens, des Wegwerfens und des Zerreissens leben, sondern dass im
Nähen, Bewahren und Sammeln unsere Freiheit liegt.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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