Weg-Wort vom 31. Januar 2013
Unerhört schön
An einer U-Bahn-Haltestelle in Washington DC steht an einem kalten Januartag
2007 ein Mann mit einer Violine. Er spielt Bach, auch Schubert. Während
dieser Zeit kommen im morgendlichen Berufsverkehr Hunderte von Menschen an
ihm vorbei. Es dauert ein paar Minuten, bis der erste Passant den Geiger
bemerkt. Er verlangsamt seinen Schritt für ein paar Sekunden. Aber er
unterbricht seinen Weg nicht. Kurz darauf wirft eine Frau den ersten Dollar
in den Hut des Musikers, aber auch sie bleibt nicht stehen. Ein junger Mann
hält kurz inne, um zuzuhören. Aber ein Blick auf seine Uhr treibt ihn an,
weiterzugehen. Dann nähert sich ein etwas dreijähriger Junge. Er möchte
stehen bleiben, aber seine Mutter zieht ihn an ihrer Hand weiter. Das Kind
schaut im Gehen zurück, will der Musik weiter zuhören. Die Mutter treibt es
an. Wie dieser Junge verhalten sich einige Kinder, aber ausnahmslos drängen
ihre Eltern sie zur Eile. Der Geiger spielt, ohne abzusetzen. Insgesamt
sechs Menschen bleiben vor ihm stehen und hören ihm für kurze Zeit zu.
Vielleicht 20 Vorübergehende werfen ihm eine Münze in den Hut.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde beendet der Geiger sein Konzert. Es
wird still. Aber niemand nimmt davon Notiz, niemand applaudiert. 32 Dollar
sind zusammengekommen. Der Violinist war Joshua Bell, einer der besten
Musiker der Welt. Er spielte unter anderem eines der komplexesten und
schwierigsten Musikstücke, die jemals geschrieben wurden: die "Chaconne in
d-Moll" von Johann Sebastian Bach. Die Geige, die er dafür verwendete, war
3,5 Millionen Dollar wert. Zwei Tage davor hatte Joshua Bell vor einem
ausverkauften Haus in Boston das gleiche Konzert gegeben. Die Karten für
dieses Ereignis kosteten durchschnittlich 100 Dollar. Sein Auftritt in der
U-Bahn-Station war ein Experiment. Die Zeitung "Washington Post" hatte es in
Auftrag gegeben. Die Redaktion interessierte die Frage, ob Menschen
Schönheit auch in einem ganz alltäglichen Umfeld wahrnehmen. Ob wir die
Besonderheit einer Situation in einem unerwarteten Kontext erkennen. Und ob
wir uns in unserem routinierten Tagesablauf vom Augenblick berühren lassen.
Geschichte aus: "Der andere Advent" 2012-2013
Mit freundlichen Grüssen
(c) Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich
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