Weg-Wort vom 27. September 2012
Der neue Stammtisch?
Es ist nichts Weltbewegendes, aber Sorgen macht es mir trotzdem. Dabei geht
es mir nicht einmal um das ohnehin tragische Geschehen, dass ein Polizist in
Ausübung seiner Pflicht von der Schusswaffe gebrauchen macht und einen
Menschen tötet. Es ist die Stammtisch-Reaktion in sozialen Netzwerken, in
Netzwerken, die so gar nicht mehr sozial daherkommen.
Da bricht Fremdenfeindlichkeit in einer Art auf, die erschreckt. Es nicht
mehr nur am Stammtisch gesagt, beim Bier, wenn am Freitagabend Dampf
abgelassen wird und man letztlich total froh ist, dass nicht jedes Wort, das
man sagt, ernst genommen worden ist. Die Wut über die Woche ist raus, das
Bier getrunken, den Kumpels gegenseitig auf die Schulter geklopft, man geht
ins Wochenende und am Montag beginnt der Alltag wieder am gewohnten
Arbeitsplatz mit Mitarbeitern aus mindestens vier oder fünf Ländern.
Ich habe die Sprüche in den Ohren, sie sind nie verstummt. "A d'Wand stelle,
alli verschüsse, Russland eifach usw." - immer sind sie da gewesen, die
Sprüche, die Ängste, die Wut. Sie hatten in der Regel Platz am Stammtisch
und blieben auch dort. Und jetzt - jetzt werden sie geschrieben und in alle
Welt hinausposaunt, und sie bleiben nicht in der Beiz liegen, sondern
verteilen sich in Windeseile. Und dann, dann ist es nicht mehr nur ein
Dampfablassen in der Dorfbeiz, wo die Leute einen kennen, und Ausrutscher
auch mal verzeihen, oder deutlich Paroli bieten, sondern geschriebenes Wort.
Das steht jetzt da, kann tausend Mal kopiert werden, man kann es nicht mehr
zurücknehmen und einer Entschuldigung glaubt eh' keiner. Hass steht da. Mord
steht da. - Nicht mehr nur Wut, dummes Gerede, nein auf einmal Programm,
Absicht - und die eigene Menschlichkeit löst sich auf in Nichts.
Die sozialen Netzwerke entlarven: Schau Dich an, wo ist deine Menschlichkeit
hingekommen, deine Nächstenliebe, deine Fürsorglichkeit als Ehemann, als
Partner, als Vater auch oder Mutter, am Arbeitsplatz und in der Freizeit.
Schau Dich an - und denke daran: Menschlichkeit ist Dir zu gesprochen, sie
ist uns zugesprochen: Gott traut sie uns zu und rechnet mit ihr.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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