Ich
lerne viel
Etwa die Hälfte der Menschen, die zu uns in die Bahnhofkirche für ein Gespräch kommen, haben nichts mehr mit dem lieben Gott zu tun. Aber sie schätzen die Seelsorge und die Offenheit der Seelsorgenden.
Von diesen Menschen lerne ich viel. Sie schauen die Dinge anders an als ich, ein Insider im Glauben und in der Religion. Sie haben einen Aussenblick, der mir immer wieder neue Einsichten beschert.
Auch von Schriftstellern, die den Glauben und die Kirchen hinter sich gelassen haben, lerne ich viel. Vor allem dann wenn sie den Blick auf die Kirche und die Gläubigen werfen. Ein Beispiel?
"Ohne Kathedralen will ich nicht leben, ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt", so schreibt Pierre Mercier, der feinsinnige Agnostiker in seinem Buch "Nachtzug nach Lissabon". Und er fährt weiter: "Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen, ich brauche ihren Glanz, ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen.
Ich will mich von der herben Kühle der Kirchenräume umhüllen lassen, ich brauche ihr gebieterisches Schweigen, ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer.
Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung überirdischer Töne, ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik.
Ich liebe betende Menschen, ich brauche ihren Anblick, ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen, ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte."