Weg-Wort vom 22. August 2008
Wie in einem Spiegel
Wenn ich morgens in den Spiegel sehe, prüfe ich nach, ob mein Äusseres für
mich stimmt, um unter die Leute gehen zu können. Manchmal wäre es zudem
sinnvoll nachzuschauen, wie es in mir drin aussieht, ob ich auch meine
Gemütsverfassung den anderen zumuten darf. Ich müsste mir dafür Zeit und
Raum nehmen, um zu spüren, wie ich mich fühle, wie es innerlich um mich
steht.
Ich kann dazu aber auch einen Spiegel benützen einen Spiegel, den die Welt
mir unablässig entgegen hält. Der griechische Fabeldichter Äsop beschreibt
diesen besonderen Spiegel auf seine unnachahmliche Art:
Ein Weisheitslehrer wurde auf der Strasse nach Athen von einem Reisenden
gefragt: Wie sind die Leute in Athen?
Er fragte zurück: Sag mir zuerst, woher du kommst und wie die Leute dort
sind.
Ich komme aus Argos. Da sind die Leute unfreundlich, ungerecht und
streitsüchtig. Deshalb ging ich weg.
Schade, entgegnete der Weisheitslehrer, die Leute in Athen sind genau
gleich.
Kurze Zeit später stellte ein anderer Reisender die gleiche Frage. Nach
seiner Herkunft gefragt, antwortete er strahlend: Ich komme aus Argos. Da
sind die Menschen herzlich, offen und gastfreundlich!
Schön, lächelte der Weisheitslehrer, die Leute in Athen sind genau
gleich.
So wie ich die Welt sehe, so bin ich. So wie ich auf sie zugehe, so begegnet
sie mir. Die Welt ist mir immer ein Spiegel. Was mich an meiner Umwelt stört
und ärgert, was mich freut und erheitert, sagt vieles über mich selber aus.
Wenn ich mit mir selbst hadere, kommt mir von aussen viel Hader entgegen.
Wenn ich mit mir im Frieden bin, nehme ich viel Frieden um mich herum wahr.
Ich vermag die Wirklichkeit nur durch meine ganz persönliche Brille zu
sehen, die geprägt ist durch meine Geschichte, durch meine Erfahrungen,
Ängste, Vorurteile, Erwartungen, Verletzungen, Empfindlichkeiten... Was ich
für die Wirklichkeit halte, ist im Grunde stets nur meine subjektive
Vorstellung davon. Das heisst für mich:
Wie ich die Welt erlebe, zeigt mir, wer ich bin. Sie ist mir Spiegel.
Ich bin weniger abhängig von den Umständen, als ich meine. Ich kann nicht
sie verantwortlich machen für meine Befindlichkeit. Für die bin ich selber
verantwortlich.
Es ist einfacher, mich zu ändern als meine Umwelt. Und wenn ich mich ändere,
ändert sich damit zugleich auch die Wahrnehmung meiner Umgebung.
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Hauptbahnhof Zürich
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