Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 3. Dezember 2020
Leiheltern Gottes
Der Schriftsteller Frank Geerk wurde von einer fortschreitenden Muskellähmungserkrankung heimgesucht. Im Jahr 2000 veröffentlichte er einen Gedichtband, der seine Erfahrungen mit dieser Krankheit widerspiegelt. Einer der Texte trägt
den Titel DE PROFUNDIS.
Für mich ein eminent weihnächtlicher Text:
Einwärts, wo Gott seine Masken verliert
Und dir sein wahres Gesicht zeigt,
Ein wimmernder Säugling,
Vollwaise, ausgesetzt, vom Hunger entstellt,
Hilf ihm! Sein Hunger gilt dir!
Es geht da um eine Bewegung ins Innere: Einwärts. Dort begegnet der Schreibende Gottes wahrem Gesicht – dem eines Säuglings! Weihnachten als Ereignis im fernen Bethlehem, vor langer Zeit, kann uns kalt lassen und der Glaube,
dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, ebenso, wenn das nichts mit unserem Leben zu tun bekommt. Bei uns muss Gott Mensch werden. Oder – in uns? Für Geerk geht es um den Gottessäugling in uns: Einwärts!
In der Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen kann Gott wirklich werden. Vielleicht im Ringen mit einer unheilbaren Krankheit. Oder in der wegweisenden Begegnung mit einem Menschen. Dabei verliert Gott seine Masken: Er verliert
viele der Vorstellungen, die wir von ihm mitbringen. Er wird uns neu geboren – ein Säugling. Geerk schreibt: „Sein Hunger gilt dir!“ Klein und hungrig ist Gott in uns und möchte wachsen, als neu Entdeckter und voller Möglichkeiten! Und wir können Leihmütter
und –väter werden, wie Maria in der Weihnachtserzählung Leihmutter des Gottessohnes wird. Was kann noch aus Gott werden, bei uns und in uns?
Erhellend, wie Frank Geerk seinen Gedichtband betitelt hat: „Vom Licht der Krankheit“. 2008 ist er 62-jährig gestorben.
Text mit freundlicher Genehmigung des von Loeper Literaturverlages aus:
Geerk, Frank. Vom Licht der Krankheit. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag, 2000. ISBN 3-86059-105-3
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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