Weg-Wort vom 1. Mai 2007
Deine Würde ist unser Mass! (Psalm 88)
In meiner Auslegung der Psalmen komme ich heute zum 88. Psalm. Dieses
Psalmgebet ist einer der traurigsten Texte in unserer Bibel. Der Psalmbeter
hat keine Hoffnung mehr. Er ist lebendig und tot zugleich. Knapp bringt er
es noch fertig, zu Gott zu schreien: Herr, Gott, mein Helfer, ich schreie
den ganzen Tag, auch nachts liege ich vor dir. Lass mein Gebet zu dir
kommen, hör auf meinen Klageruf. (Ps 88.2f)
Wir feiern heute den Tag der Arbeit. An den Umzügen und in den Reden sind
kämpferische Parolen zu hören von Menschen, die Arbeit und damit
Einkommen, Selbstachtung und Ansehen haben. Und im gemütlichen Teil wird
gefeiert von denen, die den 1. Mai als Tag ohne Arbeit, als Feiertag,
geniessen können.
Wie sieht das für diejenigen Menschen aus, die keine Arbeit haben und keine
finden? Ihnen wird es gehen wie dem Psalmbeter. Sie sind lebendig aber
ohne Arbeit gleichzeitig auch tot. Denn so ist es in unserer Gesellschaft:
Es zählen nur die, die Arbeit haben. Alle Anderen sind eine Last und ich
bin sicher, das denken viele von uns an ihrem Ohne-Arbeit-Sein selber
schuld.
Ich zitiere aus dem Psalm: Du hast mir Freunde und Verwandte genommen,
meine Bekannten haben mich vergessen. Wird deine Gerechtigkeit im Land des
Vergessens sichtbar? (Ps 88.19 und 13b)
Wenn der 1. Mai weltweit gesellschaftlich Sinn machen soll, dann müssen wir
die Frage nach der Verteilung der Arbeit auf die Schultern aller Männer und
Frauen, die arbeitsfähig sind, stellen!
Wie gehen wir mit Arbeit, Lohn und Gewinn um, dass niemand im Elend des
Gleichzeitig-lebendig-und-tot-Seins gefangen sein muss?
Gott erwartet hier von uns allen entsprechende Taten!
Mit freundlichen Grüssen
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
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