Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 21. Oktober 2020
Autonom und selbstbestimmt
Mein Freund Sigi ist ein Freigeist. Mit ihm zu diskutieren macht eigentlich
immer Spass. Neulich meinte er:
«Ich war schön überrascht, dass mich der Pfarrer damals unterstützt hat, als
ich mich nicht konfirmieren lassen wollte. Ihr Sohn muss das ganz selbst
entscheiden, sagte er zu meinen Eltern. Sie müssen sich daran gewöhnen,
dass er seine eigenen Wege geht.»
«Klar», bestätigte ich. «Das ist gute reformierte Haltung. Selber glauben
macht gross!»
«Und später, als ich mich scheiden liess und meine Frau danach einen
Suizidversuch machte, hast du doch gemeint, es gebe nun mal einfach kein
Recht auf Beziehung.»
«Stimmt», sagte ich, «die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, wo man gegen
seine innersten Empfindungen in einer Ehe bleiben musste und dabei
verkümmerte. Gott hat uns nicht in diese Welt gestellt, damit wir
unglücklich werden. Und deiner Ex-Frau geht es heute ja auch gut.»
«Das finde ich eben toll an eurer Kirche», lobte mein Freund Sigi. «Aber was
ich nicht verstehe: Der Vater meiner Partnerin hat bis 91 genau so gelebt,
wie wir es jetzt als erstrebenswert bezeichnet haben: Autonom und
selbstbestimmt! Er war Geschäftsinhaber, hat mit 65 noch
Literaturwissenschaft studiert, hat für sich selbst gesorgt und schöne,
tiefe Freundschaften gepflegt. Und da ist es doch verständlich, dass er
jetzt, nach dem Schlaganfall, wo er im Heim ist und für alles Hilfe braucht,
Sterbehilfe in Anspruch nehmen will. Ich habe ja keine Perspektiven mehr,
findet er. Nun aber höre ich von Kirchenvertretern, man müsse doch bei solch
einem schwerwiegenden Entscheid auf die Angehörigen Rücksicht nehmen, denn
für die sei das traumatisierend. Schliesslich lebe man ja nicht für sich
allein, sondern sei Teil einer Gemeinschaft. Gilt denn die Selbstbestimmung
jetzt plötzlich nicht mehr?»
«Hm», konnte ich da nur nachdenklich machen, «hm». Er ist eben ein
spannender Freigeist, mein Freund Sigi.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abbildung:
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