Weg-Wort vom 14. August 2008
Umgang mit Feindbildern
Einem Historiker wurde die Frage gestellt: Brauchen wir Feindbilder? Er
beantwortete diese Frage mit einem klaren Ja und sagte: Der Mensch kann
nicht ohne einen Feind leben. Ein Blick in unsere kleine und grosse Welt
scheint ihm recht zu geben. Wo Menschen nicht mit gewaltsamen Mitteln
gegeneinander vorgehen, so sind doch die Köpfe und Herzen voll von
Feindbildern.
Jemand, der uns im Zusammenleben verunsichert oder den wir als bedrohlich
erleben, kann plötzlich zu unserem Feind werden. Alles, was er oder sie
tut, wird negativ bewertet. Eigene bedrängende Regungen werden dem andern
angelastet. Im gesellschaftlichen Umfeld entsteht die Vorstellung vom
bedrohlichen, uns Arbeit und Reichtum nehmenden Fremden, vom arbeitsamen,
sturen Deutschen, vom gewieften, gewinnsüchtigen Juden, vom
betrügerischen Zigeuner.
Wenn der Mensch nicht ohne Feinde leben kann, dann steht es schlimm um uns
und unsere Welt. In Feindbildern steckt viel Lebensfeindlichkeit und
Destruktivität. Wir stören unser eigenes Menschsein, wenn wir Feindbilder in
uns wachsen lassen. Wir entmenschlichen auch unsern Mitmenschen; denn ein
Feind wird nicht mehr als Mitmensch wahrgenommen.
Wie aber müssen und können wir lernen, uns von Feindbildern zu befreien?
Zwar können wir andern Menschen nicht ganz vorurteilsfrei und feindbildfrei
begegnen. Aber abbauen können wir Feindbilder dennoch. Ein wichtiger Weg
dazu ist die Entwicklung und Stärkung der sogenannten Empathie, d.h. des
Vermögens, sich gewissermassen in die Haut des anderen zu versetzen und zu
verstehen, warum die Gegenseite die Welt und Dinge darin in einer bestimmten
Art und Weise sieht. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, Fremdes und Neues
und Andersartiges zu verstehen
Die Entwicklung von Empathie ist heute im Besonderen herausgefordert. Wir
wachsen immer mehr zu einer multikulturellen Gesellschaft zusammen, in der
das Zusammenleben ohne die Fähigkeit, sich in andere Kulturen, Mentalitäten,
Religionen hineinzudenken und zuleben, rein unmöglich ist. Grössere Nähe
und Vertrautheit mit anderen Kulturen trägt normalerweise bei zum Abbau von
Feindklischees. Dem tiefen Sehnen der Menschen aller Zeiten entspricht ein
heiles, friedvolles Leben.
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