Weg-Wort vom 19. Oktober 2010
Mehr
Alle wollen immer mehr mehr Geld, mehr Macht, mehr Ansehen, Lohn, Urlaub
usw. Sie hoffen, dadurch zufriedener zu werden. Aber diese Art von Mehr
macht nicht unbedingt glücklich, sondern verlangt meistens nach immer noch
mehr.
Der Benediktinermönch David Steindl-Rast spricht in Anlehnung an Dorothee
Sölle von Gott als einem Mehr. Er meint damit die menschliche Urahnung um
eine Dimension, die uns übersteigt, die unbegrenzbar ist, die immer mehr
ist als unser Begreifen und Verstehen. Dieses Mehr umgibt uns als
unauslotbares Geheimnis und unerschöpfliche Fülle zugleich.
Es ist dieses Mehr, auf das wir Menschen angelegt sind. Der kanadische
Philosoph und Politologe Charles Taylor spricht von einem désir
déternité, einer Sehnsucht nach Transzendenz, die über unseren Alltag
hinausweist.
Wir kennen alle sogenannte Gipfelerfahrungen: Letzthin stand ich zuoberst
auf einem Berggipfel. Unter mir das Nebelmeer. Darüber eine klare Sicht bis
zu den entferntesten Hügeln und Schneebergen. Die Bäume leuchteten in den
unterschiedlichsten Herbstfarben. Ich war überwältigt von der Pracht dieser
unserer Welt. Für kurze Zeit war ich einfach nur da, ganz gegenwärtig war
ich nur noch Schauen, Staunen, Freude und Glück zugleich.
Es kommt nicht darauf an, wo wir solche Erfahrungen machen beim Musizieren
oder beim Hören von Musik, in der Begegnung mit Menschen, bei der Arbeit,
beim Gehen oder Tanzen entscheidend dabei ist das Eintauchen in die
Gegenwart, wenn die Zeit still zu stehen scheint, wir uns mit allem
verbunden fühlen sowie zu allem und zu uns selbst ein uneingeschränktes Ja
erfahren.
Solche Momente weisen über uns selbst hinaus, erfüllen uns mit einer Ahnung
des Mehr und nähren unsere tiefmenschliche Sehnsucht nach dem Geheimnis,
das allem zugrunde liegt.
Nach Steindl-Rast brauchen wir dafür nicht auf Gipfelerfahrungen zu warten.
Jede Erfahrung, jede Alltagstätigkeit, bei der wir ganz gegenwärtig sind
und seien es zum Beispiel nur Kartoffeln schälen oder Treppensteigen
bringen uns mit diesem Mehr, dem göttlichen Geheimnis in Berührung.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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