Weg-Wort vom 29. Mai 2006
Verlieren und gewinnen
Beim Kartenspiel zu verlieren, macht mir in der Regel nicht viel aus. Aber
wenn ich einen Abend lang verliere, kann ich mich schon ärgern. Und mir
vergeht dabei die Lust am Spiel.
Um Sieger und Verlierer geht es in vielen Bereichen unseres Lebens. Im
alltäglichen Drängeln um die vordersten und besten Plätze wie im ständigen
Kampf durch den Strassen-verkehr, im sportlichen Wettkampf wie im
Konkurrenzkampf in Wirtschaft und Politik. Alle wollen gewinnen. Niemand
will der Verlierer sein. Der Sieger wird bewundert, der Verlierer bedauert.
Darum heisst die Devise: Nur nicht klein beigeben! Stets aufs neue kämpfen!
Wie anders sähe doch unsere Welt aus, wenn aus den vielen Rechthabern und
Machthabern vermehrt Zeithaber und Liebhaber würden. Menschen, die nicht um
alles in der Welt immer gewinnen müssen. Die als Gewinner oder als Verlierer
nicht noch weiter eins draufgeben müssen. Die sich selbst noch achten und
lieben können, ob sie Gewinner oder Verlierer sind.
Gewinnen und Verlieren will gelernt sein. Vielleicht gibt es ein auf Dauer
wirklich gutes Geschäft erst, wenn beide Parteien gewinnen und davon
profitieren. Eine wirkliche Begegnung und ein gutes Gespräch erst, wenn
beide gemeinsam daraus Nutzen ziehen.
Trotz des bestmöglichen gemeinsamen Gewinnens gehört das Verlieren zu unser
aller Leben: in Spiel und Sport, bei Wahlen und Abstimmungen, beim Verlust
der Arbeit, einer Beziehung, der Gesundheit und letztendlich unseres Lebens.
Verlust und Scheitern sind schmerzlich. Wir brauchen dann die entsprechende
Zeit zur Trauer und zur Verarbeitung.
In der Annahme des Scheiterns und des Verlustes schliesslich können wir für
uns neue Möglichkeiten entdecken, öffnen sich uns vielleicht bisher
verschlossene Türen, sind wir in der Lage, brachliegende Kreativität und
Kraft zu entwickeln, die Weichen neu zu stellen und unser eigentliches
Selbst zu entfalten. Wir haben die Chance, wie der Soziologe Doehlemann es
nennt, gewinnende Verlierer zu sein.
Kreuz und Auferstehung Jesu können uns dazu Mut und Kraft geben. Denn bei
Gott sind Scheitern und Verlust nie das Letzte. Mit Gott können wir immer
aufstehen zu einem neuen, anderen Leben.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Hans-Ruedi Rüfenacht
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche