Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
 
Weg-Wort vom 26. Oktober 2021
 
Eigener Butler
 
In unserem Studienheim hat mein Studienfreund Matthias mit mir auf dem Stockwerk gewohnt. Unter der Woche wurden wir bekocht, an den Wochenenden haben wir selbst gekocht.
Matthias war ein Mitbewohner, der immer ein wenig «aus der Zeit» gewirkt hat. Er trug nie Jeans und T-Shirt, sondern Stoffhosen und Hemd, manchmal mit Pullunder, sonntags, wenn er zur Kirche aufgebrochen ist, immer eine Fliege. Wenn er zurückkam hat er, noch mit der Fliege unter dem Kinn, eine Schürze umgebunden und für sich gekocht.
Während das Essen auf dem Herd war, hat er den Esstisch für sich gedeckt: Ein Tischset, eine Stoffserviette, ein Weinglas, ein Wasserglas, ein grosser flacher Teller, darauf ein Suppenteller, ein Schale für das Dessert. Er hat den offenen Wein bereitgestellt und eine Kerze. Es hat gewirkt, als ob ein Butler für seine Herrschaft den Esstisch bereit macht oder ein sorgfältiger Gastgeber für seinen Gast. Dann hat er das Essen aufgetragen, die Kerze angezündet und – nur das trifft es richtig – gespeist. Er hatte Essmanieren und auch sonst Manieren.
Matthias war genauso fröhlich wie wir, er hat sein Studentenleben mit uns gelebt, aber hat sich nicht gehen lassen. Man könnte meinen, dass er verschroben gewirkt hat, aber das war nicht so. Er hatte Stil.
In der Serie Downton Abbey fällt der Satz, dass die Anwesenheit von Fremden unsere einzige Garantie für gutes Benehmen ist («The presence of strangers is our only guarantee of good behaviour.»). Wenn wir alleine sind oder in der Familie, lassen wir uns gehen. Nicht Matthias. Er hat sich selbst die Würde und Ehrerbietung eines Gastes zukommen lassen. Er hat der Eigenliebe und dem Selbstrespekt eine Gestalt verliehen, die ich mir gerne in Erinnerung rufe.
Quelle: wikimedia

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