Weg-Wort vom 18. Juli 2007
Eine unerwartete Chance
Die junge Frau suchte einen freien Platz im Zugsabteil. Sie war ziemlich
extravagant und freizügig gekleidet und nahm keinerlei Notiz von den
Menschen um sich. Sie schien etwas hochnäsig. Einige schüttelten abschätzig
den Kopf hinter ihr her.
Etwas später begann ein kleines Kind zu weinen, immer lauter und quengliger.
Die Mutter vermochte es nicht zu beruhigen. Es war nerventötend. Wieder
schüttelten einige den Kopf. Da stand die junge Frau auf und setzte sich zur
Mutter und dem Kind. Sie sprach und lachte so einfühlend und liebevoll mit
beiden, dass sich das Kind in Kürze beruhigte und herzlich mitlachte. Als
die junge Frau an ihren Platz zurückkehrte, folgten ihr erstaunte, ja fast
ungläubige Blicke.
Beschämt musste ich feststellen, dass ich das dieser jungen Frau nie
zugetraut hätte. Sie hatte bei mir eigentlich keine Chance! Aber sie gab mir
die Chance, etwas von ihr zu erfahren, was ich nicht für möglich gehalten
hatte. Und dazu die Gelegenheit zur Selbsterkenntnis, wie schnell ich bereit
bin zur Vorverurteilung und jemandem damit unrecht zu tun.
Welchen Menschen geben wir keine Chance? Wen grenzen wir aus unserem Leben
aus? Zum Beispiel die unflätigen, unordentlichen und lauten Jugendlichen?
Die Behinderten? Die psychisch kranken Menschen? Die Ausländer und Fremden?
Die Andersdenkenden? Die anders lebenden Menschen?
Wir tun damit nicht nur ihnen unrecht, sondern auch uns selbst. Wir vergeben
uns die Chance, etwas Anderes und Neues kennen zu lernen, unerwartete
Erfahrungen zu machen und unser Leben vielfältig zu bereichern.
Als Christen sind wir angehalten, niemanden auszugrenzen, wie Paulus im
Brief an die Kolosser (3,9-11) schreibt:
Ihr habt den alten Menschen mit seinen Gewohnheiten abgelegt und seid zu
einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert
wird und weiss, was Gott will. Wo diese Erneuerung geschehen ist, da zählt
es nicht mehr, ob jemand zu den Griechen gehört oder zu den Juden ... zu
einem fremden Volk oder gar zu einem Stamm von Wilden, ob jemand im
Sklavenstand ist oder frei. Was einzig zählt, ist Christus, der in allen
lebt und der alles wirkt.
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