Weg-Wort vom 3. November 2011
Verzeihen
Ihr Bruder hatte sie vor Jahren sehr verletzt, was sie ihm nie verzeihen
konnte. Sie hatte damals jeden Kontakt zu ihm abgebrochen, auch zu seinen
Kindern und seiner Frau, die seit ihrer Kindheit ihre beste Freundin war.
Jetzt aber hatte sie die Nachricht von ihrem Tod erhalten. Sie liess sofort
ausrichten, nicht zur Beerdigung zu kommen. Dann aber plagten sie Zweifel:
Sollte sie nicht doch ihrer ehemals besten Freundin die letzte Ehre
erweisen?
Im Verlauf des Gesprächs wurde ihr bewusst, wie sehr sie mit ihrem
Nicht-Verzeihen ihr Leben selber eingeschränkt hatte: Sie verlor ihre
einzige wirkliche Freundin und die beiden Kinder, die sie gern hatte.
Familie und Freunde mussten sich bei Feierlichkeiten immer zwischen ihr und
der Familie des Bruders entscheiden. Zudem fand sie seither nie mehr ihren
inneren Frieden.
Verzeihen ist ein Akt der Freiheit. Es ist etwas anderes als Verdrängen oder
Vergessen. Mit dem Verzeihen löse ich mich selbst aus einer Verstrickung. Im
Verzeihen lasse ich mich nicht länger von dem abhängig machen, was jemand
anderes gesagt oder getan hat. Verzeihen macht mich frei. Ich gewinne
zumindest die Freiheit zurück, mich dem wieder zuzuwenden, dem ich mich
durch das Nicht-Verzeihen verschlossen habe. Verzeihen eröffnet stets eine
neue Zukunft.
Mein Verzeihen aber entschuldigt nicht den, der mir etwas angetan hat. Wenn
er unrecht gehandelt hat, muss er das selber verantworten, dazu stehen und
es so weit möglich wieder gutmachen. Mein Verzeihen erleichtert ihm
vielleicht diesen Weg.
Vor allem in Partnerschaften ist das Verzeihen von grosser Bedeutung. Wir
verletzen uns gegenseitig immer wieder, gewollt oder ungewollt, mehr oder
weniger stark. Wer nicht stets von neuem verzeiht, sammelt Verletzungen,
verstrickt sich in wachsende Frustrationsgefühle und sondert sich innerlich
ab, bis es eines Tages so nicht mehr weiter geht. Stetes Verzeihen aber
macht uns freier und eröffnet uns immer wieder neue Möglichkeiten.
Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte ihn: Herr, wenn mein Bruder oder
meine Schwester an mir schuldig wird, wie oft muss ich ihnen verzeihen?
Siebenmal? Jesus antwortete: Nein, nicht siebenmal, sondern siebzigmal
siebenmal!
(Mt 18,21-22)
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
© Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich
info(a)bahnhofkirche.ch
www.bahnhofkirche.ch
www.offene-tuer.net