Weg-Wort vom 15. Juli 2008
Den Alltag unterbrechen
Der alttestamentliche König Salomon lebt im Gedächtnis vieler Menschen als
der weise König. Ein salomonisches Urteil fällen heisst, ein weises Urteil
fällen. Salomon ist aber nicht zu Beginn seiner Herrschaft fähig, zu
unterscheiden und klare Entscheide zu fällen. Im ersten Buch der Könige wird
er in einer grossen Rollenunsicherheit geschildert (vgl. 1 Kön 3,2-11). Er
ist zu jung König geworden. Vor lauter Problemen sind ihm nun Sehen und
Hören vergangen. Er weiss nicht mehr Gut und Böse zu unterscheiden. Er wird
mit der anfallenden Arbeit nicht fertig und fühlt sich überfordert. Und doch
soll er der Führer seines Volkes sein.
Da steigt er für eine Zeit aus dem Alltag aus und macht eine Wallfahrt. Er
sucht einen heiligen Ort auf, den uralten, berühmten Wallfahrtsort Gibeon.
Dort opfert und betet er. Und er betet nicht um Macht, Reichtum und
Wohlergehen, sondern um ein hörendes, verständiges Herz. Salomon nimmt
seinen Alltag, seinen Beruf so ernst, dass er eine Zeit aus ihm aussteigt,
ihn unterbricht. Er muss weggehen, um zu erfahren, was er tun soll. Im
Gebet, in der Einkehr findet er die richtigen Perspektiven für sein Leben
als König.
Ein Theologe sagte, Unterbrechung sei die kürzeste Definition von Religion.
Religion überhöht und verklärt nicht nur unseren Alltag, sondern unterbricht
ihn auch. Sie unterbricht uns in jenen Bedürfnisidealen, die uns die Werbung
ständig vorgaukelt. Sie lässt unser Denken nicht fremdbestimmt sein,
beherrscht von der Meinung der Medien, von den Fernsehfilmen und der
Sensationspresse. Religion greift ein und verändert. Sie richtet uns und
unser Leben an den Werten und Massstäben Gottes aus.
Wir brauchen die Unterbrechung, um unser Leben in der rechten Perspektive zu
sehen. Wir brauchen Augenblicke der Stille, um über alles nachzudenken, über
den Sinn, das Warum und Wozu von allem. Steige ich immer wieder aus dem
Alltag aus und ziehe ich mich an Orte der Kraft zurück, um mich selbst zu
sein, um auch in der Tiefe meines Wesens Gott aufzuspüren?
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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