Weg-Wort vom 7. Juni 2007
Zeichen der Erinnerung
Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren erzählt an einer Stelle,
was ihr einmal eine alte Dame berichtet hat. Als diese Dame noch eine junge
Mutter war, geschah es, dass ihr kleiner Sohn etwas tat, wofür er ihrer
Meinung nach eine Tracht Prügel verdiente, die erste in seinem Leben. Sie
trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selbst einen Stock zu suchen, den
er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort.
Schliesslich kam er weinend zurück und sagte: Ich habe keinen Stock finden
können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.
Für die junge Mutter war diese Szene ein Schlüsselerlebnis, das sie ihr
ganzes Leben lang nicht vergessen hat. Sie bewahrte jenen Stein auf und
legte ihn auf ein Bord in der Küche, an einen gut sichtbaren Platz. Und wenn
später wieder einmal der Zorn in ihr hochstieg und sie die Hand hob, um
ihren Sohn zu schlagen, da brauchte sie nur diesen Stein anzuschauen, und
ihre Wut war verflogen. Der Stein rief die Erinnerung an jene Begebenheit in
ihr wach, machte die Gefühle, die Tränen des Kindes, die ganze Situation von
damals für sie wieder lebendig. Der Stein wurde für sie zum Zeichen der
Erinnerung.
Sicherlich haben wir auch solche Erinnerungszeichen, die ein Ereignis aus
der Vergangenheit in uns lebendig halten, uns in der Gegenwart eine
Lebenshilfe sind. Vielleicht sind es Zeichen, die uns eine einstige
Begegnung, eine einstige Freundschaft wieder aufleben lassen. Vielleicht
sind sie uns auch Mahnung, einer negativen Seite in unserem Charakter nicht
Raum zu geben.
Am heutigen Tag feiert die katholische Kirche das Fest Fronleichnam. In der
Mitte dieses Festes stehen die Erinnerungszeichen Brot und Wein, die für uns
Christen und Christinnen die Geschichte des Jesus von Nazareth lebendig
halten. Im Brechen des Brotes und im Trinken des Weines begegnet er uns
selber, teilt sich uns mit, erfüllt uns, verwandelt uns in menschlichere
Menschen. Wo wir im alltäglichen Leben die Sprache von Erinnerungszeichen
verstehen, finden wir vielleicht auch einen neuen Zugang zu den Zeichen von
Brot und Wein des Abendmahls.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
www.bahnhofkirche.ch
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche