Weg-Wort vom 30. August 2006
Eine andere Gerechtigkeit
Hie und da kann Gott sehr anstrengend sein, und wir verstehen sein Handeln
nicht. Ein besonders erstaunliches Verhalten Gottes begegnet uns im
Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16). Da wird Gott mit einem
Grossgrundbesitzer verglichen, der Tagelöhner anwirbt. Am Abend geschieht
das Erstaunliche: Wer zwölf Stunden gearbeitet hat, erhält ebensoviel wie
der, der nur eine Stunde gearbeitet hat.
Das ist nicht nur überraschend, das ist schlicht und einfach ärgerlich. Es
stellt unser menschliches Gerechtigkeitsempfinden auf den Kopf. Zwei
Erklärungen sind denkbar. Die eine heisst: Gott rechnet falsch. Dann ist er
ungerecht. Die andere könnte lauten: Gott rechnet anders. Er hat andere
Augen, durch die er den Menschen ansieht. Er sieht im Menschen mehr als das,
was er tut oder nicht tut.
Der evangelische Theologe Eberhard Jüngel versucht solches Verhalten Gottes
zu erklären, indem er den Menschen von seinen Werken unterscheidet. Er sagt:
Der Mensch ist wesentlich mehr als die Summe seiner Taten bzw. Untaten.
Nicht was ein Mensch aus sich macht, entscheidet über ihn, sondern was Gott
an ihm tut.
Es gibt in der Bibel klare Hinweise darauf, dass der Mensch für sein Heil
etwas tun muss, aber in der Erzählung von den Arbeitern im Weinberg geht es
um die Grenze der Leistung. Das Werk, die Leistung wird zwar anerkannt.
Jeder bekommt, was ihm zusteht. Aber das Gleichnis befreit den Menschen von
seiner Vorstellung, nach der der Mensch ist, was er leistet.
Die unverdient Beschenkten, die nur eine Stunde gearbeitet haben, erfahren,
dass sie mehr sind, als was sie leisten. Sie werden anerkannt und geschätzt
weit über ihre Arbeitsleistung hinaus. Und jene, die den ganzen Tag
gearbeitet haben, erfahren, dass es Unverrechenbares gibt, dass sie sich
nicht mit ihrer Arbeit und dem ständigen Vergleichen mit andern ihren
eigenen Wert beweisen können.
Unser Leben wird freier, wenn wir nicht mehr ängstlich unsere Leistungen
zusammenzählen und daraus unsere Ansprüche errechnen müssen. Unser
Lebensgefühl wird entspannter, wenn wir aus der schenkenden Güte Gottes
leben und nicht mehr unsere eigene Sicherheit bewerkstelligen müssen. Statt
Trennwände zwischen den Menschen aufzurichten, wird echte Solidarität
möglich.
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