Weg-Wort vom 24. Januar 2008
Gestaltungskraft des Glaubens
Der jüdische Philosoph Martin Buber hat den Ausspruch geprägt: Erfolg ist
keiner der Namen Gottes. Damit hat er wahrscheinlich an die Geschichte
seines Volkes gedacht. Diese ist auf weiten Strecken keine
Erfolgsgeschichte. Immer wieder war das Judentum gezwungen, durch
Verfolgungen hindurch im Dunkel des Glaubens an den Verheissungen Gottes
festzuhalten.
Auch im christlichen Glauben dient Bubers Gedanke gern als Beruhigung. So
manches wertvolle Angebot der christlichen Kirchen bleibt heute ohne oder
fast ohne Nachfrage. Viele gute seelsorgerliche Anstrengungen sind nicht von
Erfolg gekrönt.
Der Ausspruch Bubers vermag auch im politischen wie privaten Leben zu
trösten. Gott steht nicht zum vorneherein auf der Seite der Mehrheit, d.h.
der erfolgreichen Partei. Auch wenn wir in unserem Leben Misserfolge
einstecken müssen, bedeutet das nicht, dass Gott gegen uns ist, dass er uns
verlassen hat.
Und dennoch ist Erfolg sehr wohl auch ein Name Gottes. Wenn der christliche
Glaube nicht wächst, stirbt er. Eine Religion, die nicht fähig ist, zu
überzeugen, sich auszubreiten, muss im Wettbewerb der Kulturen unterliegen.
Die christliche Sehnsucht nach dem Kommen des Reiches Gottes lässt sich mit
Ruhe- und Stillhalteappellen nicht vereinbaren.
In der biblischen Erzählung über den taufenden Johannes heisst es nicht:
Das Volk war voll Ruhe, sondern: Das Volk war voller Erwartung. Solange
unser Glaube lebendig ist, sind wir unruhig, möchten wir wachsen und
gestalten. Das Gesetz des Wachstums des Samenkorns ist auch ein Gesetz des
christlichen Glaubens.
Heute wird bisweilen die Angst ausgesprochen, dass dem Islam gelingen wird,
was ihm im Mittelalter und der frühen Neuzeit versagt blieb: nämlich Europa
einzunehmen. Dabei wird an die vielen Moscheen gedacht, die heute europaweit
entstehen, während die christlichen Kirchen immer leerer werden. Wenn das
geschieht, liegt es nicht am Islam, sondern am müde gewordenen, energielosen
Christentum selber. Wir Christen sind gefragt, wie viel Gestaltungskraft
unser Glaube noch hat.
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche