Das Weg-Wort Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 16. September 2020
Das Fremde im Eigenen
Eine Frau mit Bart am Kreuz!
Im Weg-Wort vom 10. September wurde erklärt, woher diese irritierende
Darstellung stammt. Sie zeigt Wilgefortis. Einer Legende aus dem 14.
Jahrhundert nach ist sie die christliche Tochter eines nichtchristlichen
Königs. Der Vater will sie mit einem nichtgläubigen Mann vermählen, worauf
Wilgefortis Gott bittet, er möge sie so hässlich werden lassen, dass diese
Ehe unmöglich wird. Darauf lässt Gott ihr einen Bart wachsen. Ihr Vater ist
darob dermassen erzürnt, dass er seine Tochter kreuzigen lässt. Die
Darstellung der bärtigen Wilgefortis am Kreuz wird «Heilige Kümmernis»
genannt.
Eine seltsame und brutale Geschichte aus dem Mittelalter? Nein. Dass Eltern
das Anderssein eines Kindes nicht akzeptieren können und zum Äussersten
bereit sind, ist traurige Gegenwart. Ein Zitat aus dem Tages-Anzeiger vom
3.4.2016:
«Die Staatsanwaltschaft in Los Angeles County wirft einem 69-Jährigen ein
brutales Hassverbrechen an seinem 29-jährigen Sohn vor. Der Mann soll seinen
Sohn erschossen haben, weil dieser schwul war.»
Was könnte einem näher sein als das eigene Kind! Und dass ein so naher
Mensch ein Leben lebt, dass den eigenen Vorstellungen und Prägungen
widerspricht, kann zur existentiellen Herausforderung werden: Es gilt, das
Fremde im Eigenen zu akzeptieren, die grosse Ferne in der totalen Nähe.
Wilgefortis geht ihren Weg. Sie wird Christin und sie widersetzt sich den
Vorstellungen des Vaters. Mir gefällt, dass Gott diesen Weg bestätigt, indem
er das vertraute Frauenbild aufbricht. Er macht Wilgefortis zu einer «ganz
Eigenen.» Im Gegensatz zum irdischen Vater liebt der «himmlische Vater» das
Fremde und macht es sich zu eigen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abb.: Heilige Kümmernis, Diözesanmuseum Graz-Seckau, Graz, Österreich,
Künstler*in unbekannt, 2. Hälfte 18. Jh. Foto:
https://commons.wikimedia.org/wiki/User: Gugganij
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