Weg-Wort vom 23. Oktober 2012
Alltagsgeschichte
Ich sammle sie, die Alltagsgeschichten. Wenn Sie und ich genau hinhören, hören wir viele
solche Alltagsgeschichten. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel:
"Papa", fragt die kleine Tochter und klettert ihrem Vater auf den Schoss,
"Papa, kannst du mir sagen, wo der Himmel ist?" Der Papa liest gerade die
Zeitung, eine spannende Analyse des amerikanischen Wahlkampfes um die Präsidentschaft.
"Da oben", sagt er und zeigt mit dem Finger zur Decke, "da oben ist der
Himmel. Da, wo die Flugzeuge fliegen."
"Aber Frau Senn hat im Kindergottesdienst etwas anderes gesagt!"
Ach ja, denkt der Vater, immer diese Frau Senn. Und er weiss auch schon, es wird ihm
nichts helfen. Aber so schnell will er noch nicht aufgeben.
"Der Himmel", sagt er und tut so, als ob er immer noch den Artikel über den
Wahlkampf in Amerika lese, "der Himmel ist da, wo der liebe Gott wohnt. Und der hat
seinen Palast nun einmal über den Wolken."
Einen Moment lang ist Ruhe. "Ob sie mich wohl in Frieden lässt?" denkt der
Vater. Aber da fängt seine Tochter wieder an:
"Papa, wir haben ein Lied gelernt. Das ging so."
Und schon fängt sie an zu singen. Eine Melodie ist nicht zu erkennen, aber die Wörter sind
zu verstehen:
"Weisst du, wo der Himmel ist, aussen oder innen - ?" Dann bricht das Lied ab.
"Weiter weiss ich nicht. Am Schluss heisst es: Du bist mittendrin. Papa, sind wir
mittendrin im Himmel?"
Resigniert lässt der Vater die Zeitung sinken. "Was hast du gefragt?"
"Ob wir mittendrin im Himmel sind, habe ich gefragt."
Der Vater denkt eine Weile nach. Dann umarmt er seine Tochter. Wortlos.
"Weisst du was?" sagt er schliesslich, "wenn wir beide uns ganz fest
drücken, dann sind wir mittendrin. Mitten im Himmel."
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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