Weg-Wort vom 18. August 2011
Verloren
Kürzlich hat mir eine junge Mutter, die als Lehrerin arbeitete, von
einzelnen Schulkindern erzählt. Wie sie in die Schule kommen, ganz verloren
und sich sehnen nach Halt, nach Klarheit und nach Grenzen. Zuhause sei es
manchmal so, dass sie sich ganz sich selbst überlassen seien, alles sei
verfügbar, aber niemand da, der begleite. Der Kühlschrank ist voll, der
Fernseher hat unzählige Sender, der Videospiele sind viele und das Internet
und das Handy stehen je nach Alter auch noch zur Verfügung. Die Eltern,
beide am Arbeiten, weil ein Verdienst nicht reicht, oder geschieden, und
dann muss jemand dafür sorgen, dass Geld rein kommt. Kinder - verloren in
der Fülle der Möglichkeiten und Angebote, sie ertrinken darin und niemand
hilft raus.
Da, so erzählte sie weiter, lechzten die Kinder nach Grenzen, die Halt
gäben, die einschränkten: Zu wissen, was man tun muss, ist so hilfreich und
entlastend - ein Rettungsring, der hilft das Meer der unermesslichen
Angebote zu durchschwimmen und nicht unterzugehen.
Verloren - die Kinder. Sie machen es nur uns Erwachsenen nach. Wo gibt es
noch jemanden, der uns "Halt" sagt und auf den wir hören. Halt-Sager sind
nicht beliebt. Solche, die vor ungebremsten Wachstum warnen, die warnen vor
Konsumrausch, die warnen vor grassierender Unmenschlichkeit.
Verloren - nicht nur die Kinder - auch wir Erwachsenen. - Und wer bringt
Rettung? Nicht die schnelle, ausreissende, über alles hinwegfegende Rettung,
die mehr Flurschaden anrichtet als Rettung bringt: Ich meine die leise,
langsame, liebevolle tägliche, aufmerksame Zuwendung.
Halt sagen heisst nicht Dreinschiessen und die ausmerzen, die jetzt gerade
nicht passen. Halt sagen heisst, auch sich selber Grenzen setzen und die
eigene Menschlichkeit nicht verlieren. Den Kindern Halt gebieten heisst,
dass sie sich nicht verlieren, den Erwachsenen Einhalt gebieten bedeutet
nichts anderes. Tragen Sie sich Sorge, dass Sie sich nicht verlieren.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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