Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 23. April 2015
Befreiung vor 70 Jahren
Gestern bin ich mit meiner Konfirmandengruppe aus Berlin zurückgekehrt. Fünf
intensive Tage liegen hinter uns. Am dichtesten war der Tag unserer Ankunft:
Es war der Tag der Begegnung im Konzentrationslager Sachsenhausen. Über
dieses Wochenende wurde den Gräueln gedacht, die damals Menschen an Menschen
verübten. Es wurde der Befreiung gedacht, Befreiung von Menschen durch
Menschen.
Nicht im Geringsten annähernd kann ich nachempfinden, was die Menschen in
den Lagern erleiden mussten. Aber es beschäftigt mich und ich will und darf
es nicht vergessen, wie schnell wir dazu bereit sind, alles auch unsere
Menschlichkeit über Bord zu werfen. Wir tun es trotz besseren Wissens immer
wieder. Warum nur? Geschieht es aus Angst, aus dem Gefühl gehorsam sein zu
müssen, Befehle befolgen zu sollen, aus Neid, aus tief verborgener Lust
alles Gequälte in mir einem andern anzutun und so einen zu haben, der mich
nicht zum Opfer macht?
Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass Silja Walter in der Bibel einmal
nachgezählt hat, wie viele Male der Satz Fürchtet Euch nicht! vorkommt.
Sie hat ihn den Tagesbefehl Gottes genannt. 365 mal kommt er vor und dann
noch einmal. Für alle Tage des Jahres und auch für das Schaltjahr.
Ist das nicht eine Möglichkeit, mit diesem Fürchte Dich nicht! Gottes und
dem Folge mir nach Christi die Welt so zu gestalten, dass nie mehr solche
Feierlichkeiten nötig werden? Nicht mit Scham und tiefster Betroffenheit
zurückzuschauen auf die Gräuel der Vergangenheit und zu bereuen, was
Menschen Menschen angetan haben, sondern vielmehr sich freuen zu können
darüber, was sie ihnen nicht angetan haben. Bald einmal feiern wir das Ende
des zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Und noch nie gab es so viele Kriegs-
und Gewaltschauplätze. Wie lange müssen wir hier warten, bis wir das Ende
von aktueller Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen feiern können?
Ich wollte, wir könnten schon jetzt deren Ende feiern.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
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