Weg-Wort vom 20. April 2010
Die Kunst, die Balance zu halten
Der Zug stand schon einige Minuten still, mitten auf offener Strecke.
Langsam wurden die Leute unruhig. Einige schauten auf ihre Uhren. Andere
zückten das Handy, um ihre Verspätung mitzuteilen. Ich ärgerte mich, dass
uns Reisenden trotz Lautsprecheranlage einmal mehr kein Hinweis gegeben
wurde.
Das Leben ist zu kurz, um sich zu ärgern schon gar nicht über
Kleinigkeiten wie diese, meinte mein Gegenüber. Das sass! Ich schluckte
zweimal leer, sah ihn dann an und begann zu lächeln. Er aber sass da, ernst
wie vorher. In seinem Gesicht konnte ich keine Regung erkennen, nicht ein
kleines bisschen Freude.
Mein Ärger war verflogen. Ich fühlte mich erleichtert und fast fröhlich. Und
als der Zug weiter fuhr, dachte ich: Es tut gut, sich auch über
Kleinigkeiten zu ärgern; sich immer wieder mal so richtig zu ärgern. Denn
dann bleibt nichts mehr übrig für den ganz grossen Ärger, der bedrohlich
sein könnte. Je mehr ich den momentanen Ärger zulasse, desto schneller ist
er vorbei und die Freude zurück.
Natürlich will ich nicht denjenigen Menschen das Wort reden, die sich über
alles und jedes und ständig ärgern. Aber der Ärger gehört zum Leben wie die
Freude. Wichtig dabei ist: die Balance zu halten. Wie beim Tanzen: Um in
Bewegung zu kommen, brauche ich beide Beine. Die tänzerische Leichtigkeit
der Bewegung aber ergibt sich erst aus dem Ausbalancieren der sich stets
wechselnden Schritte, die mal fester, mal flüchtiger sind.
Die Balance zwischen starkem oder flüchtigem Ärger und grossen wie kleinen
Freuden lebendig zu halten, ist wie Tanzen eine Kunst, die unser Leben
freier und leichter werden lässt. Die Kunst, die Balance zu halten, können
wir täglich üben zum Beispiel bei den sich in uns widersprechenden
Gefühlen und Gedanken wie auch bei den unterschiedlichen Meinungen und
gegensätzlichen Interessen mit Menschen in unserer Umgebung. Das Übungsfeld
ist gross. Das Leben besteht ja aus vielen Gegensätzen wie es auch im Buch
Kohelet (3,1-7) geschrieben steht:
Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine bestimmte Zeit:
geboren werden und sterben, einpflanzen und ausreissen, niederreissen und
aufbauen, weinen und lachen, wehklagen und tanzen, sich umarmen und sich aus
der Umarmung lösen, finden und verlieren, aufbewahren und wegwerfen,
zerreissen und zusammennähen, schweigen und reden
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorgenden der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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