Weg-Wort vom 26. Juni 2006
Lebenslanges Lernen
Vor ein paar Jahren bin ich auf ein Heiliggeist-Bild aus dem Jahr 1494
gestossen. Es befindet sich in der Stiftsbibliothek Einsiedeln. Beim Bild
fällt zunächst seine optimistische Farbenharmonie auf, mit der der Maler
darauf hinweisen möchte, dass der Heilige Geist ein Freund des Lebens, eines
farbigen Lebens ist, dass Leben entsteht, wo er zugelassen wird.
Ausgewählt habe ich dieses Pfingstbild aber von einem andern überraschenden
Detail her. Maria und die Apostel sitzen in dieser Darstellung nicht auf
Thronen oder wenigstens auf prächtigen Sesseln, sondern auf Schulbänken.
Maria ist hier nicht die erhabene Frau, sondern eine Schülerin; die Apostel
sind nicht als die grossen Lehrer, sondern als Schüler dargestellt. Auch
nach Jesu Auferstehung haben sie zu lernen und einander zu helfen, bis sie
zu der immer grössere Kreise umfassenden Kirche werden. Sie spüren, dass sie
die Kraft von oben dazu benötigen, was sie in ihrer frommen Gebetshaltung
betonen.
Schon vor Ostern hat Jesus viel Zeit darauf verwendet, seine Anhänger und
Anhängerinnen dazu zu bringen, etwas vom Geheimnis seiner Botschaft, seines
Wirkens und seines Weges zu begreifen. Das Eintreten in Jesu Wertesystem, wo
z.B. Arme, Erfolglose, Trauernde selig gepriesen werden, gelang ihnen nicht
von einem Tag auf den andern. Nach langer Schulung mussten sie einmal sogar
die tadelnde Frage hören: Versteht ihr immer noch nicht? (Mk 8,21).
Angesichts von Jesu Leiden und Sterben am Kreuz versagten vollends. Nur
durch mühsames Lernen konnten sie begreifen, dass Jesu Weg, Ablehnung,
Leiden und Tod einschliesst.
Ein lebenslanges Lernen im Glauben ist auch von uns abverlangt. Vor allem in
jenen Lebensphasen werden wir neu auf die Schulbank gezwungen, wo unser
Lebenskonzept durchkreuzt wird, wo uns ein Ereignis aus dem gewohnten Gleis
wirft, wo wir lernen müssen, dass Leben aus dem Tod entsteht. Das
Unverständnis von Jesu Anhänger und Anhängerinnen ist uns zunächst Trost,
wenn wir aufbegehren gegen Dinge, die uns abgefordert werden. Sie ist uns
auch Ermunterung, uns täglich neu auf die Schulbank zu setzen, um in jene
Lernprozesse einwilligen zu können, die gerade jetzt von uns abverlangt
werden.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
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Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche