Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
Weg-Wort vom 21. Januar 2021
Du sollst…
Wer einmal den Satz, «Du sollst Deinen Nächsten Lieben wie Dich selbst!» gehört hat, wird nicht vergessen, dass er ihn gehört hat. Es bleibt ja auch nicht dabei,
dass man ihn einmal hört; er ist Teil der christlichen Existenz, Kernsatz des Christentums, Angelpunkt christlicher Ethik, er verschafft dem Christentum seine positivste Aussenwirkung.
Dieser Satz hat bestimmt viel Gutes und Richtiges in der Welt bewirkt, er führt aber auch in ein Dilemma. Wann immer der Christ in dieser Welt für seine Nächsten
da ist, kann sein Blick nie mehr allein dem Nächsten gelten, sondern sein Blick ist auch auf Gott gerichtet, der ihm das Tun des Guten aufgetragen hat. Der Christ hofft oder weiss zumindest, dass Gott sieht, wie er Gutes tut, und dass er das auch gutheisst.
Das gibt dem Christen seine Bedeutsamkeit und verunmöglicht den Akt völliger Selbstlosigkeit und völliger Hinwendung zum Nächsten.
«Wenn Du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.» – das ist schlicht nicht möglich.
Oft wünsche ich mir, dass es die «Du-sollst-Sätze» in der Bibel nicht gäbe, sondern nur die Rede vom liebenden Gott, damit es einzig mein innerer Antrieb, mein Mitgefühl,
mein moralischer Kompass wäre, der mich dazu bringt das Richtige zu tun.
Das haben Atheisten uns voraus, wenn sie Akte der Nächstenliebe vollbringen.
© Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich