Weg-Wort vom 20. Mai 2009
Versöhnung der Gegensätze
Unsere Welt lebt von Gegensätzen. Dinge existieren auf dem Hintergrund ihres
Gegenteils. Bei Sonnenschein zum Beispiel kann man den Strahl einer
Taschenlampe nicht sehen. Man braucht dazu die Dunkelheit. Der Schatten
wiederum benötigt das Licht. Kälte und Wärme, Tag und Nacht, Frühling,
Sommer, Herbst und Winter bedingen sich gegenseitig. Erst durch das
gegensätzlich Andere sind sie das jeweils Eigene.
Wie in der Aussenwelt sind wir auch in unserer Innenwelt geprägt von
Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten. Unsere Stärken kontrastieren auf dem
Hintergrund unserer Schwächen. Unser Mut geht einher mit der Feigheit, das
Wissen mit der Unkenntnis, die Güte mit der Bosheit, die Wut mit der
Zärtlichkeit.
Allerdings schätze ich dabei in der Regel nur den angenehmen, den schönen
Teil. Mit meiner Lebensfreude überdecke ich gern meine Trauer. In dunklen
Stunden flüchte ich schnell in hoffnungsvolles Licht. Ich meide die
Auseinandersetzung, den Streit um der Harmonie und des Friedens willen. Es
fällt den meisten Menschen schwer, die Gegensätze in uns selbst und in den
anderen auszuhalten.
Unser ganzes Menschsein zu leben aber würde bedeuten, den Gegensätzen und
Widersprüchlichkeiten in uns ganzheitlich Raum und Zeit zu geben, das Leben
in seiner Fülle zuzulassen: Auch das Unangenehme, Niederdrückende, Boshafte
in uns auszuhalten. Einen gesunden Rhythmus zu finden zwischen Tun und
Lassen, Sein und Werden, Geben und Empfangen, Anpassung und Widerstand
Wenn beide Seiten ihren je eigenen Platz in uns erhalten, geschieht ein
Stück Versöhnung die Versöhnung der Gegensätze, die zulässt, dass es
schwarz und weiss, Frau und Mann, Abhängigkeit und Freiheit, Bewegung und
Ruhe
gibt.
Tief in unserer Seele ist aber auch eine unstillbare Sehnsucht grundgelegt
nach der Vereinigung der Gegensätze. Wir haben vielleicht eine leise Ahnung
davon, dass im Geheimnis Gottes die Gegensätze aufgehoben sind, verschmolzen
in eine übergeordnete umfassende Einheit, die uns jetzt noch unverständlich
ist. In Stunden zum Beispiel, in denen sich überraschenderweise alles zum
Guten wendet, können wir etwas von diesem Geheimnis erahnen.
Wir wünschen Ihnen einen guten und gesegneten Tag!
Die Seelsorger und Seelsorgerinnen der Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Beat Schlauri, Susanne Wey
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