Weg-Wort vom 11. September 2008
Sich ins Beten einüben
Denk doch an mich! Wie oft sagen wir das, wenn wir etwas Besonderes, etwas
Unangenehmes oder Schweres vor uns haben. Das Bewusstsein, dass geliebte
Menschen uns in einer schwierigen Situation nicht vergessen, schafft
Verbundenheit, gibt uns Kraft.
Eine Bitte um das Daran denken enthält auch der Psalm 25: Denk an dein
Erbarmen und deine Liebe, die du schon immer bewiesen hast (V. 6). Aus
anderen Versen geht hervor, dass der Beter die Orientierung verloren hat und
nach dem Willen Gottes für seinen Weg sucht. Und wenn ein Mensch Gott an
sein Erbarmen und an seine Liebe erinnert, versteht es sich eigentlich von
selber, dass er in einer Situation ist, in der er Gottes Erbamen und Liebe
nicht mehr gewiss ist. Gott als Liebender ist ihm abhanden gekommen.
Für den biblischen Beter ist es eine Selbstverständlichkeit, sich in dieser
Situation an Gott zu wenden. Dieses Grundvertrauen, von dem sich der Beter
getragen weiss, ist für uns Menschen der Moderne keine
Selbstverständlichkeit mehr. Wenn wir ganz unten sind, können wir meist auch
nicht mehr beten. Wir müssen zuerst etwas finden, das die Enge der inneren
Versklavung an unsere Not aufzubrechen vermag.
Der Dichter Rainer M. Rilke beschreibt in einem Brief an seinen Verleger,
dass ihm das Psalmenbuch eine Hilfe in allen Erfahrungen ist: Ich habe die
Nacht einsam hingebracht in mancher inneren Abrechnung und habe schliesslich
beim Schein meines noch einmal entzündeten Weihnachtsbaumes die Psalmen
gelesen, eines der wenigen Bücher, in denen man sich restlos unterbringt,
mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.
In den Psalmen kann ein Mensch sein ganzes Leben mit allen Erfahrungen
unterbringen. Es ist schon einiges erreicht, wenn die Not, die uns bedrängt,
nicht mehr das ganze Denken und Fühlen bestimmt. Vertrauen als Grundhaltung
wird uns nicht einfach geschenkt, sondern ist oft das Ergebnis eines harten
Ringens. Das Psalmengebet ist eine vorzügliche Schule, uns in diese Haltung
einzuüben.
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Hauptbahnhof Zürich
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Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche