Weg-Wort vom 21. Juni 2007
Der Faden nach oben
In der Literatur gibt es viele Tiergeschichten, hinter denen, verfremdet,
der Mensch steht. In einer solchen Geschichte wird von einer Spinne erzählt:
Eines Morgens glitt vom hohen Baum am festen Faden die Spinne herab. Unten
im Gebüsch baute sie ihr Netz, das sich im Laufe des Tages immer
grossartiger entwickelte und mit dem sie reiche Beute fing.
Als es Abend geworden war, lief sie ihr Netz noch einmal ab, um es
auszubessern. Da entdeckte sie auch wieder den Faden nach oben, den sie über
ihrer betriebsamen Geschäftigkeit ganz vergessen hatte. Doch verstand sie
nicht mehr, wozu er diene, hielt ihn für überflüssig und biss ihn kurzerhand
ab. Sofort fiel das Netz über ihr zusammen, wickelte sich um sie wie ein
nasser Lappen und erstickte sie (nach Jörgensen).
Der kunstvolle Bau eines Netzes ist für die Spinne lebensnotwenig zum
Beutefang. Es muss richtig konstruiert sein, damit es den Winden widerstehen
kann und beim Beutefang nicht zerreisst. Ein tragendes Bauelement des Netzes
ist der Haltefaden, der nach oben führt. Über der betriebsamen
Geschäftigkeit des Tages hat die Spinne die lebensnotwendige Bedeutung des
Fadens vergessen. Dass sie ihn für überflüssig hält und ihn abbeisst, hat
ihren Tod zur Folge.
Der Spinne in dieser Geschichte entspricht der Mensch als Arbeiter und
Künstler und erinnert an die grossartigen Werke, die der Mensch in
Literatur, Kunst, Wissenschaft und Technik geschaffen hat. Der Faden nach
oben ist Ausdruck seiner Geschöpflichkeit, der Urverbindung nach oben.
Der Mensch ist nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen, ist dadurch in
seinem Innersten eingewurzelt in Gott. Diese Verbindung kann nicht ohne
Folgen abgebrochen werden.
Überlegen wir heute morgen: Durch welche Lebensfäden kann ich meine
Halterung bei Gott noch verstärken? Jesus sagt: Bleibt in mir, dann
bleibe ich in euch. Wie der Rebzweig aus sich keine Frucht bringen kann,
sondern nur, wenn er am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht
bringen, wenn ihr nicht in mir bleibet (Joh 15,4).
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