Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 26. August 2020
Schön und brutal
Das Weg-Wort vom 19. August hatte die Darstellung der Arche Noah im Türrelief der St. Petri Kirche in Rostock zum Thema. Der Bildhauer Jo Jastram hat es gestaltet. Heute steht ein zweites Detail aus diesem Relief im Mittelpunkt. Immer noch geht es um die Noah-Geschichte. Jetzt wird das Ende dieser Erzählung dargestellt: Die zerstörerische Flut ist vorüber, die Familie Noahs und die Tiere haben die Arche verlassen, die Erde ist wieder bewohnbar. Neues Leben entsteht: Palmen mit Datteln wachsen, ein Paar hat ein Kind bekommen. Aber Jo Jastram zeigt keine Idylle. Da wird nicht gelacht, gefeiert, getanzt. Die menschlichen Figuren wirken mager. Man ahnt entbehrungsreiches und hartes Leben.
Die Sonne scheint, aber sie muss sich durch dichte, dicke Wolken hindurch kämpfen. Die Taube, die Noah den Ölzweig aufs gestrandete Schiff gebracht hat, diese Hoffnungsbotin fliegt über den Wolken – wohl nicht sichtbar für die Menschen. Und auf dem schön gepflügten Ackerboden geht ein Mann, der ein Messer gezückt hat. Der Künstler, so ist zu lesen, hat diese Arbeit unter dem Eindruck des Kosovokrieges 1999 gefertigt. Damit schaffte er einen aktuellen Bezug zur uralten Erzählung: Das Leben auf dieser verletzlichen Kugel Erde ist unglaublich schön und gleichzeitig erschreckend brutal. Licht und Hoffnung sind nicht selbstverständlich, sondern immer auch bestritten.
Hoffnung darf nicht an dieser Realität vorbeischauen. Sonst wird sie lächerliche Behauptung. Sie muss sich in der Realität bewähren. Sie weiss um das Licht und die Taube, auch wenn sie sie nicht immer sieht.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abb.: Jo Jastram, Friedensschluss zwischen Gott und den Menschen, 1999, Türrelief St. Petri Kirche Rostock. Foto: Schiwago. https://commons.wikimedia.org
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