Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
Weg-Wort vom 25. November 2021
Freigiebigkeit
Der Dichter und Erzähler Johann Peter Hebel berichtet von einem sinnreichen Bettler und schreibt: «Sonst bemessen die Bettler ihre dankbaren Wünsche nach
dem Wert der Gabe, die ihnen gereicht wird. Derjenige, von welchem hier die Rede ist, sagt, das sei grundfalsch. Wer ihm viel gibt, dem wünscht er eine hundertfältige Vergeltung von Gott. Wer ihm aber wenig gibt, dem wünscht er eine tausendfältige, oder wenn
es noch weniger ist, eine hunderttausendfältige Vergeltung. Denn er sagt: ‘Ich muss einen gleich guten Willen bei allen voraussetzen. Wer wenig reicht, wird wenig haben. Ich muss ihm also mehr wünschen. Soll ich das Meinige auch noch dazu beitragen, dass zuletzt
die Reichen alles bekommen?’»
Als Jesus und seine Jünger im Tempel waren, beobachteten sie, wie die Leute spendeten. Dann heisst es im 21. Kapitel des Lukasevangeliums: «Er blickte auf
und sah, wie die Reichen ihre Gaben in den Opferkasten legten. Er sah aber auch eine arme Witwe, die dort zwei kleine Münzen hineinwarf. Da sagte er: Wahrhaftig, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr hineingeworfen als alle anderen. Denn sie alle haben
nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, der es am Nötigsten mangelt, hat ihren ganzen Lebensunterhalt hergegeben.»
Wir neigen dazu, Freigiebigkeit an der Höhe der gespendeten Beträge zu bemessen. Und eine gebende Person erhält umso mehr Anerkennung, je grösser ihre Gabe
ist. Der sinnreiche Bettler und Jesus bieten uns eine andere Perspektive an: Wahre Freigiebigkeit ist unabhängig vom Geldwert und liegt vielmehr in der rückhaltlosen Handlungsbereitschaft des Herzens. Diese Sicht bewahrt uns davor, eine kleine Gabe und deren
Spender gering zu achten.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Bild von Myriams-Fotos auf Pixabay
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