Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 8. Juli 2021
Welches Glück hättens denn gern?
Glück ist ein grosses Wort im Deutschen. Es bedeutet ein bisschen alles und nichts. Andere Sprachen vermögen es besser zu fassen: Are you happy or lucky? Est-ce que vous avez de la bonne fortune ou êtes-vous heureux?
Glück kann das meinen, was wir lateinisch als Fortuna bezeichnen: Das Glück, das mir zufällt, ohne dass ich es beeinflussen kann. Wenn der berühmte Blumentopf einen Meter hinter mir landet, anstatt auf meinem Kopf. Aber Fortuna – ursprünglich eine römische
Göttin – ist ein launisches Wesen. Was sie mir heute an Glück schenkt, kann sich morgen in Pech verkehren. Man ist ihr weitgehen ausgeliefert. Kein Wunder, wird sie manchmal mit einer hellen und einer dunklen Seite dargestellt (siehe Abbildung).
Da halte ich es doch lieber mit dem Glück als Glückseligkeit! Damit ist die Lebenskunst gemeint, in der man das Glück gerade nicht von äusseren Umständen abhängig macht, sondern in sich selbst findet. Hier geht es also um eine Haltung, die man sich – zumindest
ein Stück weit – aneignen kann. Oft ist sie mit der Fähigkeit verbunden, sich an kleinen Dingen wie z.B. einem guten Gespräch oder einem berührenden Gedicht zu freuen und sich selbst Gutes zu tun. Ganz stark hängt Glückseligkeit mit Dankbarkeit zusammen: Dankbarkeit
für die Schönheit der Natur oder für ein frisches, knuspriges Stück Brot.
Und dann gibt es auch das Glück als Verzückung, als Ekstase! Diese Momente, in denen ich aus dem Alltäglichen in einen anderen Seins-Zustand herausgerissen werde: Ausserhalb meiner selbst, überschwemmt von Wonne, leicht und schwebend.
Geschenkte Momente. Manchmal erlebe ich sie in der Sexualität. Manchmal in Grenzsituationen des Lebens. Manchmal überfällt uns Gott mit ihnen. Der Apostel Paulus schreibt im Neuen Testament, er sei in den „dritten Himmel“ entrückt worden, habe nicht mehr gewusst,
ob er im oder ausserhalb seines Körpers sei und habe unsagbare Worte gehört (2. Korintherbrief 12, 2-4). Was für ein Glück!
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Abbildung: Fortuna bifrons. Boëthius, De consolatione; 1476, Harley Ms
© Ökumenische Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich