Weg-Wort vom 13. Oktober 2008
Eine neue Art Mensch
Angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise, ausgelöst durch kurzsichtiges,
egoistisches Gewinnstreben, erhält der folgende Text des Schriftstellers
Andrew Greely eine unerwartet aktuelle Bedeutung:
Eins der kritischen Probleme in der Gesellschaft ist der Mangel an
Vertrauen. Die Menschen können einander nicht trauen, weil sie in ihrem
Leben nicht genug Freundschaften haben. Wenn es mehr Freundschaften auf der
Welt gäbe, dann gäbe es auch mehr Vertrauen, und das Spannungsniveau in
gesellschaftlichen Beziehungen würde sich automatisch senken. Ich bin gewiss
nicht naiv genug, zu glauben, dass alle Sozialreform-Bestrebungen sich
darauf konzentrieren sollten, die Qualität von Freundschaften zu verbessern.
Die Verbesserung grösserer Sozialstrukturen kann nicht auf die Perfektion
individueller Beziehungen warten, und die Verbesserung individueller
Beziehungen würde auch nicht ohne drastische Veränderungen bestehender
Strukturen zu einer Gesamtreform der Gesellschaftsstruktur führen.
Freundschaft ist kein Allheilmittel, aber eine Vorbedingung, und zwar in
dreifachem Sinne:
Wenn die Quantität wie die Qualität der Freundschaft nicht wächst, dann
werden verbesserte Sozialstrukturen sofort durch neue Probleme gefährdet,
die mindestens so kompliziert sind wie die durch die Reform behobenen. Wenn
die massgebenden Reformer nicht sich selbst, ihren Wert und ihre Würde, die
in ihren Freundschaftsbeziehungen verwurzelt ist, genau kennen, dann werden
ihre sozialreformerischen Kreuzzüge weniger zu einer Verbesserung des
menschlichen Lebens als vielmehr zu einem Anwachsen ihres eigenen
Selbstwertgefühls führen. Solche Kreuzritter sind nur geringfügig vom
Fanatismus entfernt.
Um Umweltprobleme wie Vorurteile, Kriege, Verseuchung zu lösen, brauchen wir
möglicherweise eine neue Art Mensch, ein Wesen, dessen Stärke und Vertrauen
in einem starken, stützenden Geflecht aus Freundschaft verankert sind, und
das sowohl anderen vertraut als auch in der Lage ist, Vertrauen an
diejenigen weiterzugeben, mit denen es Beziehungen unterhält.
Mit freundlichen Grüssen Ihre
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