Weg-Wort vom 23. Juli 2010
Recht und Gerechtigkeit
Es gibt keine Gerechtigkeit mehr auf der Welt, klagte ein Mann während des
Gesprächs. Er hatte einen Prozess angestrengt und verloren. Die Enttäuschung
darüber, aber auch Zorn und Wut, waren ihm ins Gesicht geschrieben. Er
verstand die Welt nicht mehr, denn für ihn gab es keinen Zweifel: Er war im
Recht. Dieses Recht aber war ihm per Gerichtsbeschluss verwehrt worden.
Ob dem Mann tatsächlich Unrecht widerfahren war, kann ich nicht beurteilen.
Die geltenden Gesetze bilden die Grundlage für unsere Rechtsprechung. Aber
selbst wenn Recht gesprochen wird, heisst das nicht, dass das Urteil immer
auch gerecht ist. Recht und Gerechtigkeit bilden nämlich ein Paar, das
zusammengehört.
Deutlich wird das an einem Fall, den der Anwalt Abraham Lincoln einst
übernehmen sollte. Ein geschädigter Mann war im Recht, aber die
Durch-setzung seiner Forderung auf 600 Dollar hätte eine arme Witwe mit fünf
Kindern ruiniert. Lincoln lehnte deshalb die Mandatsübernahme ab mit der
Begründung:
Was rechtens ist, braucht nicht unbedingt auch recht zu sein. Sie sind
jung. Sie sind klug. Sie haben Energie. Gebrauchen Sie ihre beiden gesunden
Hände, und verdienen Sie sich die 600 Dollar.
Lincolns Vorschlag ist herausfordernd, aber für mich die richtige Lösung.
Denn Recht ohne Gerechtigkeit macht Aussöhnung unmöglich. Deshalb gehört für
Lincoln die Nächstenliebe dazu. Papst Johannes XXIII. meinte dasselbe, als
er sagte: Man mag die Welt auf Gerechtigkeit gründen oder wieder gründen,
ohne Liebe hat die Gerechtigkeit keinen Bestand. Mit den uns bekannten
Worten heisst das Gnade vor Recht ergehen lassen.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
(c) Bahnhofkirche
Roman Angst, Toni Zimmermann
Iris Daus, Rolf Diezi
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