Weg-Wort vom 30. August 2007
Einsamkeit bestehen
Du kannst dir nicht selber gute Nacht sagen, schrieb einmal der Dichter
Max Frisch. Vom ersten bis zum letzten Augenblick unseres Lebens sind wir
wesentlich auf andere Menschen bezogen. Und dennoch gehört die Erfahrung
schmerzlicher Einsamkeit, die Erfahrung vergessen und alleingelassen zu
werden wesentlich zu jedem Menschenleben.
Beziehungen sind Leben, bewirken Leben, halten uns am Leben. Was aber, wenn
Beziehungen gestört oder gar zerstört werden? Das Leben belädt uns mit
vielen Verlusten, mit viel Einsamkeit. Gerade heute leiden viele Menschen
unter Einsamkeit. Einsamkeit kann Leben gefährden, Leben mindern. Eine
schwere Einsamkeit ist wie ein böses Tier in uns, das gierig nach dem Leben
trachtet. Die Einsamkeit kann unsere Lebensfähigkeit prüfen: Was ist stärker
in uns - die Liebe zum Leben oder die Neigung zu zerstörerischen
Todesmächten in uns?
Unsere Bindung ans Leben kann sich in vielen, auch kleinen Dingen
ausdrücken:
· Während uns die Trauer noch lähmt und schlaff macht, finden wir vielleicht
die Kraft, ganz bewusst vom Stuhl aufzustehen und ein paar Schritte vorwärts
zu machen, Schritte zum Leben hin.
· Verbundenheit mit dem Leben drückt sich auch in einer starken
Verbundenheit mit dem Leben der Natur aus. Wo wir das Wunder des Wachsens in
der Natur entdecken, lernen wir vielleicht auch die Wachstumsgesetze im
eigenen Leben verstehen. Es ist eine ebenso vielsagende wie ganz schlichte
Erfahrungstatsache: Es gibt kein menschlichen Reifen ohne Leiden, ohne
Einsamkeit.
· Verbundenheit mit dem Leben heisst auch, sich andern Menschen verbunden
fühlen. Es ist schon einiges geschehen, wenn wir auf die Hilfe und den Trost
anderer Menschen zugehen können. Noch mehr erreicht haben wir, wenn es uns
gelingt, den Teufelskreis der Verschlossenheit auf uns selber aufzubrechen
und die Aufmerksamkeit von uns weg auf andere Menschen und ihre Not zu
lenken.
· Den stärksten Halt finden wir, wenn uns die Erfahrung der Einsamkeit auch
zu einer neuen Entdeckung Gottes führt. Glücklich der Mensch, der in seiner
Einsamkeit und Not seine Hände Gott entgegenstrecken und beten kann: Wende
dich mir zu, denn ich bin einsam und elend (Ps. 25,16). Vielleicht darf er
dann die Worte hören: Ich lebe, und auch ihr sollt leben (Joh 14,19).
© Bahnhofkirche
Hauptbahnhof Zürich
www.bahnhofkirche.ch
Seelsorger: Roman Angst, Toni Zimmermann
In Teilzeit: Sr. Anna Affolter, Sr. Zoe Maria Isenring, Susanne Wey
Evangelisch-reformierte und Römisch-katholische Kirche