Das Weg-Wort – Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich!
Weg-Wort vom 31. Januar 2020
Bis unendlich
Eine Leinwand mit lauter Zahlen: Oben links die 1, dann 2,3,4 usw. Unten rechts ist die 6793 zu erkennen. Offensichtlich sind die Ziffern von Hand gemalt worden. Ein Bild!
Der französisch-polnische Künstler Roman Opałka hat von 1965 bis zu seinem Tod 2011 ganze 233 solcher Bilder geschaffen und dabei nichts anderes getan als eben dies:
mit einem Pinsel und der Farbe Titanweiss Zahlen aneinander zu reihen. Allerdings hat er die Grundierung bei jeder neuen Leinwand durch die Zugabe von einem Prozent Weiss stetig aufgehellt.
Am Ende waren die Zahlen vor ihrem Hintergrund kaum mehr zu erkennen. Weiss in Weiss.
Verblüffend einfach und gleichzeitig drastisch schafft der Künstler damit ein Bild der Vergänglichkeit wie der Unendlichkeit. Seine persönliche Zahlenreihe hat bei 5'607'240 geendet.
Das Konzept aber könnte weitergeführt werden, Zahl an Zahl, ohne Ende, selbst dann, wenn die einzelnen Ziffern von ihrem Hintergrund gar nicht mehr zu unterschieden wären.
Das ist im Titel seines Projekts ausgedrückt: «1965/1 - ∞». Die individuelle Zeit ist eingebettet in die Unendlichkeit.
Das Wundersame unserer Existenz kommt so zur Darstellung. Das Wort Existenz ist griechischen Ursprungs und bedeutet «heraustreten», «herausstehen». Was heraustritt hebt sich ab von seinem Hintergrund.
Existieren heisst, da zu sein, identifizierbar, in dieser Welt. Wir treten heraus in das leibliche Leben, sind wie diese Zahlen, die sichtbar sind. Unsere Existenz endet – wie Ziffern, die mit ihrem Hintergrund verschmelzen.
Ein Eingehen in ein ungetrenntes, grosses Eins. Bemerkenswert: Es ist ein Verschmelzen ins Helle.
Mit freundlichen Grüssen
Ihre Bahnhofkirche
Roman Opałka, OPALKA 1965/ 1 - ∞. Detail 1 – 35327, 1965, Ausschnitt.
Foto: Jean-Pierre Dalbéra, 2019. Quelle: www.flickr.com/photos/dalbera
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