Weg-Wort vom 21. November 2007
Umgeben vom Geheimnis
Es gibt Ereignisse und Erfahrungen, von denen wir erzählen, die wir bis ins
Detail beschreiben können. Wir sind in der Lage, sie voll und ganz in Worte
zu fassen.
Wir machen aber auch Erfahrungen, die wir nicht in ihrer ganzen Tiefe
beschreiben können, die irgendwie unsagbar sind. An die wir uns nur
herantasten, aber sie mit Worten nie wirklich einfangen können: Verliebt
sein zum Beispiel; die ergreifende Schönheit einer herbstlichen
Abendstimmung; die Begegnung mit einem Menschen, die uns betroffen und
berührt zurücklässt.
Der Maler Anselm Kiefer beschreibt sein künstlerisches Schaffen mit den
folgenden Worten: Die ganze Malerei, aber auch die Literatur ... ist ja
immer nur ein Herumgehen um etwas Unsagbares ... dessen Zentrum man nicht
betreten kann. Sein Malen findet für ihn kein Ende, weil es ihn stets an
eine Grenze führt, die er nicht überschreiten kann. Es weist darum immer
über das hinaus, was er sagen und zeigen kann.
Mit der Religion verhält es sich ähnlich. Wir wollen unseren Glauben so weit
wie möglich mit unserem Verstand erfassen, uns darüber austauschen, um uns
und andere im Glauben besser zu verstehen. Wir machen dabei aber auch die
Erfahrung, dass alles kritische Nachdenken und Sprechen über Gott und Glaube
uns stets an unsere Grenzen führt und über uns hinausweist.
Der Turiner Philosoph Norberto Bibbio antwortete auf die Frage nach seinem
Verhältnis zum christlichen Glauben: Gerade als Mann der Vernunft weiss ich
um die Grenzen der Vernunft, die nur einen winzigen Teil der Finsternis, die
uns umgibt, aufklären kann
(Ich weiss, dass wir) eine Insel sind, umgeben
vom Geheimnis
Das nenne ich den religiösen Sinn des Menschen.
Gott ist das unsagbare Geheimnis, um das wir gleichsam nur herumgehen
können. Alles Denken und Reden über ihn ist nur ein stammelndes Herantasten
an sein ewiges Geheimnis. Wir können uns aber immer wieder von ihm berühren
lassen, vom Geheimnis, das uns überall und in jedem Augenblick umgibt.
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Hauptbahnhof Zürich
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