Das Weg-Wort - Werktagsgedanken aus der Bahnhofkirche Zürich
 
Weg-Wort vom 2. September 2021
 
Gott besiegen
Die biblischen Vorstellungen von Gott faszinieren mich immer wieder. In der Jakob-Erzählung im Buch Genesis etwa erscheint er als rätselhaftes Nachtwesen, das Jakob beim Durchqueren des Flusses Jabbok überfällt und in einen Ringkampf verwickelt.
Der Gedanke, dass Gott sich so auf die menschliche Ebene einlässt und zum Gegenüber des Jakob wird, ist schon fremd genug. Noch viel seltsamer ist jedoch, dass Gott den Kampf verliert. Er kann Jakob nicht bezwingen, auch wenn er ihm das Hüftgelenk ausrenkt, und er muss ihn am Ende bitten, von ihm abzulassen: «Lass mich los, denn die Morgenröte ist heraufgezogen.» Jakob aber lässt nicht locker und erringt sich einen Segen. Damit geht eine Namensänderung einher: «Du sollst nicht mehr Jakob heissen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen gestritten und hast gesiegt» sagt Gott zu ihm.
 
Das passt alles so gar nicht zu unseren Vorstellungen eines allmächtigen, allwissenden und allgegenwärigen Gottes.
Aber tatsächlich kann uns Gott zur Herausforderung werden, mit der wir ringen und die wir nicht loslassen können. Mancher Kampf mit unseren hergebrachten Gottesvorstellungen geht so tief, dass er uns nachhaltig verändert und dass wir danach zwar gesegnet, aber auch gezeichnet sind, wie Jakob, der mit dem ausgerenkten Hüftgelenk zum hinkenden Israel wird. Menschen, die in sehr engen, z.B. freikirchlichen Milieus aufgewachsen sind, erleben manchmal solche Gotteskämpfe, die sie befreien, aber auch Wunden hinterlassen.
Bezeichnenderweise bleibt Gott selbst in der Erzählung namenlos. «Was fragst du mich nach meinem Namen?» antwortet er auf Jakobs Frage.
Er behält seine Fremdheit, sein Anderssein, das immer wieder überrascht.
 
Abbildung: Eugène Delacroix, Jakobs Kampf mit dem Engel, 1856 – 61, Kirche Saint-Sulpice, Paris. Quelle: Wikimedia Commons
 
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